Anne Wizorek: Let’s talk about Meinungsfreiheit, Baby

Transkript des Redebeitrages bei der Re:publica 2015

 

Erst mal Hallo und Guten Morgen! Großartig, dass sich so viele um die Uhrzeit schon aus dem Bett geschält haben trotz wahrscheinlich guter After Party gestern. Ich wurde ja schon angekündigt und auch dass ich gerade ganz gut beschäftigt bin, unter anderem weil ich besagtes Buch herausgebracht habe, bin ich ziemlich viel unterwegs. Wer mir auf Twitter oder Instagram folgt, kriegt das gerade ganz gut mit. In Deutschland, in der Schweiz, in Österreich und egal wo ich bin und welche Art von Veranstaltung es ist, ob es ein Vortrag ist oder ein Podium oder auch ein Workshop, den ich leite, irgendwann, meistens sogar ziemlich schnell kommen dann zwei Fragen. Die erste ist: Kriegst du immer noch Hasskommentare? Und die zweite ist: Wie gehst du mit Hasskommentaren um? Während die erste Frage zwar nicht wirklich befriedigend aber immerhin einfacher zu beantworten ist: ja, ich kriege noch Hasskommentare, und die Frage ist eigentlich immer eher nur, ob’s mal mehr oder mal weniger sind, lässt sich die zweite Frage leider nicht so leicht beantworten. Was besonders schwer ist, vor allem junge Frauen melden sich mit dieser Frage bei mir, und dann ist die Antwort natürlich umso schwerer. Denn eigentlich sind diese Frauen bereits begeistert vom Netz, wollen mehr damit machen, wollen damit ihre Arbeit publizieren, wollen schreiben, wollen Fotos veröffentlichen, Videos, Veranstaltungen machen, sich an Diskussionen beteiligen und stecken in der Regel einfach voller wunderbarer Ideen. Gleichzeitig befürchten sie aber, einfach durch die bloße Präsenz im Netz ungewollt Hassattacken ausgesetzt zu werden. Und dann sitze ich da oder stehe und möchte ihnen eigentlich weiter von den Großartigkeiten des Internet vorschwärmen, von dem Netz, das mir so viele unersetzliche Freundschaften beschert hat, die sich mühelos über mehrere Kontinente sogar erstrecken. Ich möchte von dem Netz erzählen, das mir meine Stimme sozusagen gebracht hat, mich zum Bloggen gebracht hat. Und schließlich auch zu Veranstaltungen wie dieser hier, kleiner Shout-out an alle, die auch schon 2007 dabei waren. Das Netz, von dem ich erzählen möchte, ist das, was mich politisiert hat, das mir gezeigt hat, dass ich selbst Teil des Wandels sein muss, wenn ich etwas in dieser Welt verändern möchte.

Aber stattdessen muss und möchte ich natürlich auch ehrlich bleiben, stattdessen geht es dann um die harte Realität. Es geht dann um Fragen wie: Kann ich die Impressumspflicht im Blog irgendwie umgehen? Sollte ich besser von Anfang an ein Pseudonym im Netz benutzen? Wenn ich dann offline Vorträge halte und ein Pseudonym benutze, werde ich dann überhaupt ernst genommen? Reicht es nur zu bloggen? Muss ich auch Screenshots machen? Wie reagiere ich bei anonymen Drohungen? Was mache ich eigentlich in so einem Shitstorm? Und so weiter und so fort. Ich finde nicht, dass diese Fragen sein sollten und dass Menschen sich diese stellen müssen, bevor sie sich im Netz einbringen. Ich finde, es ist an der Zeit, dass wir uns nicht nur offen eingestehen, dass unsere derzeitige Online-Kultur kaputt ist, sondern auch dass es dringend notwendig ist, Lösungen zu entwickeln, kurzfristige wie langfristige. Daher ganz im Sinne des Songs, der diesem Titel den Namen gab: Let’s talk about Meinungsfreiheit, Baby! Let’s talk about you and me. Let’s talk about all the good things and the bad things that may be.

Beginnen möchte ich dabei mit den sprachlichen Begriffen und mehr oder weniger der Definition, die sich rund ums Thema Gewalt im Netz und Hasskommentare etabliert haben und das ganze leider auch nicht immer ganz einfach machen, um darüber zu sprechen. Obwohl Sprache diesbezüglich natürlich sehr wichtig ist. Fangen wir also quasi beim Punkt Einself an, der Meinungsfreiheit. Sie bezeichnet das Recht der freien Meinungsäußerung. Artikel 5, Absatz 1 im Grundgesetz besagt: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Eine Zensur findet nicht statt.“ Eigentlich ziemlich easy. Aber einige Menschen verwechseln das trotzdem immer noch damit, dass ihre Aussagen in einem mehr oder weniger gesellschaftlichen Vakuum existieren und daher auch nicht kritisiert werden dürfen, wenn sie zum Beispiel sexistisch, rassistisch oder auch feindlich gegenüber Homosexuellen sind. Es gibt einen großartigen (?) Comic, den haben wahrscheinlich auch schon alle hier gesehen, ich zeige ihn trotzdem noch einmal, weil der so gut ist, der sehr schön erklärt wie dieses Prinzip der Meinungsäußerungsfreiheit, wie es ja eigentlich noch konkreter heißt, funktioniert. Nur zur Erläuterung: ich habe die deutsche Übersetzung des Sprachwissenschaftlers Anatol Stefanowitsch gewählt, weil der sich natürlich auch auf den europäischen Rechtsrahmen bezieht. Da heißt es: „Wichtige Durchsage: das Recht auf freie Meinungsäußerung besagt, dass die Regierung dich für das, was du sagst, nicht verfolgen darf. Es besagt nicht, dass sich irgendjemand dein Gefasel anhören oder dir dafür Speicherplatz zur Verfügung stellen muss. Artikel 11 der EU-Grundrechte-Charta schützt dich nicht vor Kritik oder Reaktionen. Wenn du angeschrien oder boykottiert wirst, man deine Sendung absetzt oder dich aus einem Internetforum ausschließt, ist das keine Verletzung deiner Meinungsfreiheit. Es bedeutet nur, dass die Leute, die dir zuhören, dich für ein Arschloch halten und dir zeigen, dass du nicht willkommen bist.“

Der nächste Begriff, über den wir selbstverständlich sprechen müssen in diesem Rahmen, ist der der Hate Speech. Dieser ist gut erkennbar englisch und steht für Hasssprache, Hassrede, Volksverhetzung. Das deutsche Wort Hassrede ist bislang nicht so etabliert und die Debatte rund um diese Themen ist vor allem US-amerikanisch geprägt. Daher benutze auch ich diesen Begriff, zumal der sich auch mittlerweile im Deutschen immer mehr etabliert hat. Und dazu nur eine Anmerkung: es ist kein sprachwissenschaftlicher Begriff, sondern ein politischer. Kurz zur Definition: Hate Speech bezeichnet Formen sprachlicher Ausdrucksweisen, die eine Person oder eine Gruppe von Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Religion, sexuellen Orientierung oder Herkunft erniedrigen, einschüchtern oder zur Gewalt gegen sie aufstacheln. Das kann schriftlich, mündlich, in Bildform, in Massenmedien und damit natürlich auch im Internet passieren. Hate Speech ist also kein Phänomen, das erst durchs Netz entstanden ist, aber das wir durch die technischen Möglichkeiten, die sich durchs Netz ergeben, noch mal neu diskutieren müssen. Eine feste Definition oder auch Sammlung von Hate Speech-Wörtern gibt es nicht, da Hate Speech auch immer im jeweiligen Kontext betrachtet werden muss. In der übrigens sehr lesenswerten Broschüre der Amadeu Antonio Stiftung, die jüngst zum Thema Hate Speech erschienen ist und die ich euch hier wirklich zur weiteren Lektüre wärmstens ans Herz legen möchte, werden folgende Elemente von Hate Speech aufgezeigt: Gleichsetzung wie zum Beispiel: „die Schwarzen gleich Afrika“; Verschwörungstheorien wie zum Beispiel: „Israel hat einen Anschlag auf die eigene Bevölkerung inszeniert, um von der Kritik an der Außenpolitik abzulenken“; De-Realisierung, also eine verzerrte Wahrnehmung und Falschaussage wie: „Alle Politiker hassen Deutschland“; eine Gegenüberstellung von „wir“ und „ihr“ als Gruppen; und das Konstruieren eines Handlungszwanges wie zum Beispiel: „Wenn wir uns von denen weiter auf der Nase herumtanzen lassen, werden wir alle sterben“; und Normalisierung von bestehenden Diskriminierungen wie zum Beispiel: „Ist doch kein Wunder, dass die Schwarzen so behandelt werden“. Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und andere Formen von Diskriminierung existieren auch im Netz weiterhin – schließlich lösen sich entsprechende Machtstrukturen, die ja auch außerhalb der Bildschirme wirken, nicht einfach in Einsen und Nullen auf. Dieser Wunsch war am Anfang des Internets mal da, hat sich aber nicht erfüllt. Durch Hate Speech wird in erster Linie ein Klima geschaffen, in dem die Hemmschwellen, um Gewalt gegen bestimmte Personengruppen auszuüben, gesenkt werden. Gewalt gegen Menschen, die der jeweiligen Gruppe angehören, ist dann gesellschaftlich akzeptierter, was wiederum durch einen Mangel an Empathie noch mal manifestiert wird. Hate Speech dient also zur Entmenschlichung der betroffenen Personen.

Ein weiterer Begriff, der in der Debatte auftaucht und den ihr bestimmt auch alle kennt, ist der gute alte Shitstorm, mittlerweile sogar definiert im Duden als – ich zitiere – „Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht“. Ich finde dieses „zum Teil“ immer sehr charmant [lacht]. Nun steht dieser Begriff zwar schon im Duden, aber die allgemeine Verbreitung hat einerseits dazu geführt, dass der Begriff mittlerweile geradezu inflationär gebraucht wird, also dass im Grunde bei drei negativen Artikeln zu irgendeinem Zeitungsartikel gleich von einem „Shitstorm“ geredet wird. Andererseits werden dann auch gezielte Hasskampagnen gegen einzelne Personen oder Personengruppen durch die Bezeichnung „Shitstorm“ geradezu verharmlost. Ein Unternehmen auf Social Media-Kanälen für einen sexistischen Werbespot zu kritisieren, ist schließlich etwas anderes als Aktivistinnen zu sagen, dass sie einfach mal wieder „ordentlich durchgefickt gehören“ und ihnen bei nächster Gelegenheit mit dem Messer aufgelauert wird. Die Machtebene ist eine ganz andere, wenn in der Regel ein Team hinter dem Unternehmens-Account steckt und Social Media-Auftritte betreut, die Leute nicht mal persönlich in Erscheinung treten müssen und sie sich auch beim Krisenmanagement abwechseln können. Das hat dann im Übrigen auch nichts damit zu tun, dass Menschen an den Pranger gestellt werden, sondern hier wird lediglich Social Media genutzt, um öffentlich Kritik zu üben. Beleidigungen, Diffamierungen und Drohungen können natürlich auch innerhalb eines Shitstorms auftreten, aber wenn Hasskommentare oder auch Emails zum Grundton des digitalen Alltags werden, bekommt das alles eine andere Dimension und wir müssen schließlich von Hasskampagnen sprechen.

Ein weiterer Begriff, der die Debatte prägt, aber leider auch schwierig ist, ist der des Trollens. Warum der nicht so geeignet ist? Nun, dazu vielleicht mal eine kleine Liste, auch noch nicht vollständig, was derzeit unter anderem alles unter „Trollen“ verstanden wird: Das sind dann Beleidigungen, Verleumdungen, üble Nachrede, Stalking, Fälschung von Accounts und Verbreitung gefälschter Informationen, Verbreitung von Nacktbildern, das sogenannte Doxing, also wenn private Daten wie jetzt zum Beispiel die Adresse einer Person im Netz veröffentlicht werden, wenn Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber kontaktiert werden, um die betreffende Person dort zu diffamieren, wenn Gewalt angedroht wird, das natürlich nicht nur auf einzelne Personen bezogen sondern auch auf deren näheres Umfeld wie zum Beispiel die Familie, wenn mit Mord gedroht wird, oh und natürlich: ursprünglich stand das ja auch mal für ein bewusstes Stören von Kommunikation im Netz und Provokation von Gesprächsteilnehmer_innen. Wie man also ganz gut sehen kann, wird da einiges in einen Topf geschmissen, was eigentlich eine differenziertere Auseinandersetzung verdient und durch diese „Ich mach doch nur Spass“-Implikation des Troll-Begriffs schlicht nicht ernst genug genommen wird. Außerdem wird beim Troll-Begriff nicht unterschieden, ob es sich um Mitläufer und Mitläuferinnen handelt oder um Agitator_innen, die maßgeblich dazu beitragen, dass die kritische Masse für eine Hasskampagne überhaupt erst erreicht wird. Wer mehr dazu erfahren möchte, sollte sich die Hater-Typologie von Yasmina Banaszczuk anschauen, die in besagter Broschüre zu Hate Speech übrigens auch noch mal in ausgefeilter Form zu finden ist.

Zusätzlich haben wir ein Problem mit unserer Online-Kultur an sich. Denn nicht nur der Begriff des Trollens sondern auch das „Don’t feed the Troll“ als Mantra hat sich etabliert. Das heißt, feindseligen Kommentaren soll einfach keine Beachtung geschenkt werden, damit diejenigen Menschen das Interesse an ihrem Angriffsziel verlieren. Dies führt leider zu einer toxischen Online-Kultur. Denn wer angegriffen wird, darf sich dadurch nicht mal mehr darüber beschweren, denn spätestens dann ist die Person, wenn sie sich beschwert, eben selber schuld, wenn es auch noch schlimmer wird. Solidarität mit den Betroffenen wird dadurch schier unmöglich statt selbstverständlich zu sein. Hier zeigt sich schließlich auch das Ausmaß der Taktik von Hasskommentaren. Gerade marginalisierte, also an den Rand der Gesellschaft gedrängte Menschen, die sich im Netz die Möglichkeiten von Plattformen zu nutze machen und eine Gegenöffentlichkeit für ihre Lebensperspektiven schaffen, sollen bewusst wieder aus dieser Öffentlichkeit verdrängt werden. Sie sollen zum Schweigen gebracht werden. Es geht bei Hate Speech also nicht um bloße „Kritik“, wie es dann gerne mal verschleiert dargestellt wird. Hasskommentare sollen zermürben, Angst machen, isolieren und die betreffenden Menschen am Ende zum Schweigen bringen. Und auch wenn den Drohungen vielleicht keine physischen Angriffe nachgehen, sind die Folgen für die Betroffenen von Hasskommentaren fatal. Die Worte haben bereits Gewalt ausgeübt, sie haben bereits verletzt. Folgen sind unter anderem Selbstzensur, Schlafstörungen, Essstörungen, Hilflosigkeit, Angst, Scham, Verunsicherung, emotionale Belastung. Das sind nur einige mögliche Resultate und die zeigen auch eindeutig, dass der psychische Stress auch immer in Verbindung mit körperlichen Beschwerden einhergeht. Betroffene Menschen werden durch diesen entmenschlichenden Akt der Hate Speech zu reinen Projektionsflächen. Wie sich das unter anderem anfühlt, hat dieses Selfie von Zoe Quinn auf, finde ich, sehr traurig-schöne Weise eingefangen. Die Videospielentwicklerin Zoe Quinn war das erste Ziel von Gamergate und wird seit August 2014 belästigt und bedroht und das zwar täglich, August 2014. Der Text auf dem Bild lautet: „The light inside has broken but I still work”. In diesem Zusammenhang sind dann auch Äußerungen und Attitüden wie “das sind doch nur so ein paar durchgedrehte Menschen im Internet“ und „Leg dir halt eine dickere Haut zu“ oder „Du brauchst dann erst gar nicht im Netz zu sein“ mindestens zynisch zu nennen. Davon abgesehen: danke für den Tipp, meine Haut ist schon dick genug. Trotzdem wüsste ich nicht, wie die Tatsache, dass jeden Tag mit einer Vergewaltigungsdrohung zu rechnen ist, als akzeptabler Netzalltag gewertet werden könnte. Die Beschimpfungen, Belästigungen und Bedrohungen sind real, nicht virtuell. Die damit einhergehenden Ängste sind es ebenso. Am Beispiel der Popkultur-Kritikerin Anita Sarkeesian sieht man auch ganz gut, wie sehr sie gerade darum kämpfen muss, weiterhin als Mensch betrachtet zu werden. Und das im Übrigen nicht nur gegenüber den Leuten, die sie täglich angreifen, sondern auch gegenüber denen, die sie unterstützen. Sie wird förmlich zu einer unzerstörbaren Heldin inszeniert und verliert wiederum auf diese Art ihre Menschlichkeit. Das ist ein mir sehr wichtiger Punkt, den ich immer wieder zu bedenken geben möchte. Wer unterstützen möchte, tut das auch nicht auf diese Art und Weise.

Fakt ist, wer im Netz nicht nur konsumieren sondern auch partizipieren möchte, insbesondere auf politischer Ebene, muss in einem gewissen Maß sichtbar werden und das macht wiederum angreifbar. Eine Studie des Pew Research Centers für Internet, Science & Tech aus dem letzten Jahr bestätigt das Offensichtliche: nämlich dass insbesondere junge Frauen Belästigungen im Netz ausgesetzt sind, vor allem durch Stalking, da sind es 26%, und sexuelle Belästigung, 25%. Hate Speech ist aber wie gesagt kein neues Problem, aber mit den Weiterentwicklungen rund um die Plattformen wie Facebook oder eben auch Twitter und andere Plattformen werden diese mittlerweile gezielt für Hasskampagnen eingesetzt. Dazu kommt das Problem, dass diese Plattformen und natürlich die größten ihrer Art sowieso in der Regel von weißen Männern aufgebaut wurden und werden, also einer Gesellschaftsgruppe, die am wenigsten von struktureller Diskriminierung betroffen ist und dementsprechend beim Entwickeln der Produkte das Worst Case Scenario von Online-Attacken nicht einkalkuliert hat. Die Diversity Reports von Twitter aber auch von Facebook, nur mal als Beispiel, fallen halt auch entsprechend aus. Und intern sieht’s dann so aus. [eingeblendet werden zwei Schlagzeilen: „Twitter is facing a class action lawsuit for gender discrimination“ und „Facebook is sued for sex discrimination, harassment“] Wenn Plattformen aber auf freie Meinungsäußerung pochen und wiederum nicht bei den Nutzern und Nutzerinnen hart durchgreifen, die zum Beispiel Vergewaltigungsdrohungen an eine feministische Aktivistin schicken, dann ist das nicht neutral und sie haben sich damit bereits positioniert und zwar auf der Seite der Belästigung. [eingeblendet wird das Zitat: „Completely deregulated speech (is) neutral for the people who have power. It’s not neutral for me.” (Jaclyn Friedman)] Die Ressourcen, um Lösungen gegen Online-Belästigung zu entwickeln, sind allerdings auch schon jetzt vorhanden. Und es gibt bereits Rufe nach möglichen Industriestandards für Plattformen. Ich denke auch, das wäre ein ganz guter Ansatz. Letztendlich aber sind Gegenwehr und Schutz – als Einzelperson gerade auch – Luxus in Anbetracht der Zeit und mentalen Kapazitäten, die sie wiederum kosten, und natürlich auch der technischen Kenntnisse, die mitunter immer noch erforderlich sind. Dabei sollte die Verantwortung für den Umgang mit Online-Bedrohungen nicht ausschließlich auf den Schultern der Menschen lasten, die diese Bedrohungen erhalten haben. Dass dies derzeit so ist, wird natürlich auch bei den Angriffen einkalkuliert. Und machen wir uns nichts vor, auch Plattformen schlagen Kapital daraus, dass es Hassbewegungen wie zum Beispiel Gamergate gibt und der Traffic dann schön am Laufen gehalten wird. Wir haben gesehen, erst wenn die PR dauerhaft schlecht ausfällt, bewegt sich bei den Unternehmen etwas. Das zeigt wiederum ein grundlegendes Problem, dass Profitmaximierung über das Wohlergehen der Nutzerinnen und Nutzer geht.

Ein weiterer Punkt, der natürlich eine Rolle spielt in der ganzen Debatte, ist die Rechtsordnung. Hier gibt es in Bezug auf Hate Speech zwar den Volksverhetzungsparagraphen § 130 Strafgesetzbuch und auch allgemeine Gesetze, die vor Beleidigung schützen. Doch Hate Speech zeigt sich oft in vermeintlich rationalen Aussagen, die wiederum eindeutig außerhalb des justiziablen Bereichs liegen und trotzdem problematisch sind, weil sie zum Beispiel mit falschen Fakten rechter Propaganda in die Hände spielen. Kurze Frage: wer hier im Saal wüsste sofort, was zu tun ist, wenn auf Twitter eine Morddrohung eingeht? … Danke. Wer würde sich sicher dabei fühlen, mit dieser Morddrohung zur nächsten Polizeiwache zu gehen und auch das Gefühl haben, dass die wissen, was Twitter ist? … Exakt. Genau an diesem Problem zeigt sich sehr gut, dass der sogenannte Digital Divide auch im Bereich der Strafverfolgung sehr groß ist, in einem Bereich, wo meistens die Dienstemails noch alle ausgedruckt werden.

Und hinzu kommt natürlich, wenn wir über das Thema Gesetze reden und überhaupt Rechtsmöglichkeiten, dass der Hass, die Verleumdung im Netz dokumentiert bleiben, sie sind nicht ausgesprochen, sie sind immer noch da und sie prägen damit auch den digitalen Fußabdruck derjenigen, die davon betroffen sind. Das kann dann Auswirkungen haben, wenn man dann zum Beispiel beim nächsten Jobgespräch plötzlich auf einen Blogpost angesprochen wird, der eben in den Suchergebnissen leider eher weiter oben landet. Wenn man natürlich das Glück hat, überhaupt erst zum Jobgespräch eingeladen zu werden. Das Problem im gesetzlichen Bereich ist wiederum, dass es als Einzelperson gerade wenn es eine Dauerattacke gibt, schon kaum möglich ist, diese alleine zu bewältigen. Wie soll man diese erst alle einzeln prüfen und dann noch gegebenenfalls anzeigen? Das ist eine Realität, die bisher noch nicht in den Gesetzen, die wir haben, abgebildet ist. Insofern brauchen unsere Gesetze diesbezüglich ein schlichtes Update. Und die Einführung eines Straftatbestandes Cybermobbing wie ihn die Juristin Dagmar Freudenberg vom Deutschen Jurist_innenbund fordert, könnte hier auch weiterhelfen. Bis es dergleichen geben wird, werden aber voraussichtlich noch so einige Statusupdates gepostet werden und natürlich muss auch klar sein, Gesetze können nicht alles lösen, erst recht, wenn die Mühlen entsprechend langsam mahlen und dann noch im Verhältnis zur Internetzeit.

Natürlich müssen wir auch zusätzlich immer noch lernen und verstehen, was die Kommunikation über Bildschirme mit uns überhaupt macht, dass unsere Gehirne so verdrahtet sind, dass sie Botschaften, die uns online erreichen, in einem Bereich verarbeiten, der unsere ureigenen Instinkte anspricht und damit erst mal auf einen Verteidigungsmodus schaltet, weil uns schlicht Mimik, Gestik und Tonfall fehlen. Hinzu kommt natürlich auch die gefühlte Anonymität und Straffreiheit auch als Online-Disinhibition-Effekt bekannt, also eine Enthemmung des Verhaltens. Gerade im Bereich der Mitläuferinnen und Mitläufer bei Hasskampagnen ist dies sehr relevant. Hate Speech ist in der Debattenkultur ein Problem, dem wir begegnen müssen. Und Medienkompetenz kann nur mit Zivilcourage und einer eindeutigen Positionierung gegen Hate Speech funktionieren. Unter diesem Punkt, der Medienkompetenz, sehe ich übrigens auch die Verantwortung und Kompetenz journalistischer Medien gefordert, die sich natürlich auch durch ihre eigenen Kommentarspalten leiten lassen und das dortige aggressive Klima entsprechend moderieren müssen, damit erstens sich überhaupt Leute beteiligen und nicht der Eindruck entsteht, das wäre die Meinung der Masse. Online-Debatten sind meinungsbildend und wenn dort eine hasserfüllte Einstellung dominiert, kann das schlicht andere beeinflussen. Oft passiert das schon beim ersten Kommentar, der dann den weiteren Verlauf der Diskussion bestimmt. Weiterhin sehe ich bei Medien die Verantwortung, dass sie die Gewalterfahrung der Betroffenen von Online-Attacken nicht als Click-Bait benutzen, um ihre Sensationsgier zu stillen. Es reicht nicht, diese Beiträge zu machen und zu sagen „oh schlimm, was der passiert ist“. Betroffene sind auch immer Expertinnen und Experten ihrer Situation und müssen auch als diese gehört werden. Davon abgesehen, kleiner Hinweis: für Shitstorms zu schreiben ist kein Journalismus.

Aber das Positive: auch aus der Not heraus bilden sich gerade neue Netzwerke, Initiativen wie das Crash Override Network, wie die Online Abuse Prevention, wie Heartmob, das gerade noch gefördert wird und wenn ihr ein bisschen Geld übrig habt, könnt ihr den Kickstarter gerne besuchen. Dies sind in der Regel Initiativen von Betroffenen, die einfach gemerkt haben, dass es nicht mehr anders geht, dass sie das selber in die Hand nehmen müssen, dass die Plattformen, die sie gerne mögen und eigentlich benutzen möchten für ihre Arbeit, nicht den Job machen, den sie eigentlich machen sollen. Und wir müssen uns bei diesen Initiativen immer wieder vor Augen führen, das sind Leute, die das in der Regel ehrenamtlich tun oder zumindest mit kleinem Budget und gerade letztendlich Pionierarbeit leisten. Insofern finde ich, sollten wir das unterstützen, an jeder möglichen Ecke, wo es geht.

Um das zusammenzufassen: Ich sehe hier also ein eindeutiges Zusammenspiel aus verschiedenen Ebenen, eben den Plattformen, der Rechtsordnung, der Medienkompetenz und auch einem Kulturwandel. Was ich damit meine, wenn es um Hate Speech geht, habe ich angeschnitten, wenn es um tatsächliche Kritik geht – wie gesagt: Hate Speech ist nicht Kritik – brauchen wir wiederum ein Wertesystem, das mit den Gegebenheiten des Netzes umgehen kann und ebenso respektvollen Umgang miteinander in den Mittelpunkt rückt. Ein Wertesystem, das auf Empathie basiert und auch Raum fürs Fehlermachen lässt und uns daran wachsen lässt. Wir brauchen Ideen, wie Entschuldigung aber auch Verzeihen im Social Media-Zeitalter funktionieren können. Das Internet ist ein Lebensraum, eine Entwicklung, die eindeutig zunimmt und nicht ab, allein schon durch die weiter steigende mobile Nutzung des Netzes. Das hat auch nichts mit Digital Natives zu tun, sondern schlicht damit, dass das Netz immer weiter in unseren Alltag integriert wird. Die bislang immer noch strenge Aufteilung in Online und Offline sollte daher dem allgemeinen Verständnis weichen, dass Online und Offline stets verschränkt miteinander sind. So ist auch Gewalt im Netz ein Abbild der strukturellen Diskriminierungen, die unsere Gesellschaft abseits der Bildschirme durchdringen und immer noch prägen. Insofern ist es auch wichtig, dass Veranstaltungen wie diese hier nicht nur einen Code of Conduct einführen, sondern diesen auch einsetzen und damit die Community stärken. Auch das signalisiert das Wissen um die Verknüpfung von Online und Offline. Hasskommentare werden immer noch zu oft als Meinungsfreiheit verteidigt, während nicht auf die Menschen geschaut wird, deren Meinungsfreiheit dadurch beschnitten wird, dass Hasskommentare im Netz einfach hingenommen werden und wie sich das wiederum für das Leben offline auswirkt. Diese Probleme anzugehen ist Netzpolitik und gehört damit ebenso auf die Agenda, wo jetzt der Überwachungsskandal zu finden ist. Wenn wir über Meinungsfreiheit sprechen und das Recht, nicht überwacht zu werden, müssen wir uns auch anschauen, wem die Äußerung der eigenen Meinung im Netz derzeit am problemlosesten möglich ist und wer dagegen vielleicht sogar ganz davon abgeschreckt wird, sich überhaupt einzubringen. Das Internet ist unser Arbeitsplatz, der Ort, wo wir Freundinnen und Freunde kennen lernen, sie regelmäßig treffen, der Ort, wo wir uns verlieben und wieder entlieben, wo wir Abschied nehmen und genauso neue Menschen in der Welt willkommen heißen, wo unsere Gedanken und Ideen eine Plattform finden, wo wir mit unserer Familie in Kontakt sind und uns an Katzenbildern erfreuen können ohne einen allergischen Schnupfenanfall zu bekommen wie in meinem Fall, der Ort, wo wir großartige Dinge zusammen auf die Beine stellen wie diese hier, unabhängig von Ort und Zeit. Die Dinge, die wir im Netz tun und erleben, haben immer Konsequenzen auf uns als Personen vor dem Bildschirm und andersrum können uns die Umstände außerhalb des Internets erst recht zu diesen bringen (?). Was ist ein Netz dagegen wert, in dem es selbstverständlich ist, dass Hasskommentare nicht nur zu erwarten sind sondern auch ausgehalten werden sollten? Ein „Geh doch woanders hin, wenn’s dir nicht passt“ ist schon lange keine Alternative mehr und ist es auch noch nie gewesen. Ich möchte ein Netz, das mir die Antwort auf die Frage „Wie gehst du mit Hasskommentaren um?“ direkt liefert – weil es sie nicht gibt. Dieses Netz brauchen wir für uns alle. Vielen Dank.

Aufstand der Subjektivität

 

Leo Gabriel im Gespräch über den Mai 1968 und seine Folgen von Paris bis Managua

 

Paris, Mai 1968

Den Mai 1968 in Paris erleben viele Menschen – einer von ihnen ist Leo Gabriel – ein paar Augenblicke lang als einen Moment, in dem die Revolution zum Greifen nahe scheint. Die Jugend rebelliert in den Straßen von Paris. Die Gewerkschaften rufen den Generalstreik aus und Aktivist*innen liefern sich Straßenschlachten mit der französischen Polizei. Staatspräsident de Gaulle verschwindet vorübergehend von der Bildfläche. Manche sehen in den Ereignissen ein Wiederaufleben der Pariser Kommune von 1871, als die Bewohner*innen die Staatsmacht aus der Stadt vertrieben und soziale Maßnahmen für eine Verbesserung der Lebensbedingungen ergriffen hatten.

 

Leo Gabriel nennt diese Tage einen Aufstand der Subjektivität. Ein Aufbegehren gegen jede Form von Herrschaft – gegen Kapitalismus und Konsumgesellschaft ebenso wie gegen das autoritäre Gesellschaftsmodell in der Sowjetunion und gegen die hierarchischen Kirchen. Und auch auf persönlicher Ebene handelt es sich um eine Befreiung des Individuums, die für viele mit sexueller Freiheit einher geht. Besonders die Frauen*bewegung nimmt in dieser Zeit einen Aufschwung. Der Blick erweitert sich von Europa auf andere Regionen wie Afrika, wo antikoloniale Befreiungsbewegungen sich für die Unabhängigkeit von kolonialer Unterdrückung stark machen und Lateinamerika, wo revolutionäre Bewegungen seit der erfolgreichen Kubanischen Revolution für soziale Befreiung kämpfen. 1968 ereignet sich als ein globales Phänomen, das an vielen Orten zum Ausdruck kommt. In politischer Hinsicht dennoch eine Niederlage, so Leo Gabriel, denn die Macht können die Aktivist*innen der 68er nirgends übernehmen. Veränderungen zeigen sich vor allem auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene.

 

Für Leo Gabriel persönlich bedeuten die Ereignisse in Paris einen tiefen Einschnitt in sein Leben. Als Sohn eines Universitätsprofessors für Philosophie und Chefideologen der konservativen ÖVP führt Leo Gabriels Weg nach Paris, mit dem Plan, eine diplomatische Laufbahn einzuschlagen. Zudem absolviert er ein Studium der Sozialanthropologie, u.a. bei Claude Levy-Strauss. Einst als Mitglied des katholischen Cartellverbandes und jetzt Vertreter der Auslandsstudent*innen erlebt Leo Gabriel die Ereignisse 1968 hautnah mit. Er liest die Werke von Autor*innen wie Herbert Marcuse, die besondere theoretische Impulse für die 68er Bewegung geben. Dies alles wird schließlich sein eigenes Leben tiefgreifend verändern und seinem bisherigen Weg eine Wendung geben.

 

Leo Gabriel kommt mit den Befreiungsbewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika in Berührung, die für die Überwindung der kolonialen Strukturen kämpfen. Auf einer persönlichen Ebene verändert auch die sexuelle Befreiung sein Leben. Freie Liebe und Sozialismus sind prägend für ihn, der lange Zeit in Kommunen lebt. Den Umbruch im Lebensstil erlebt er nicht nur abstrakt, sondern im Alltag, etwa bei den regelmäßigen Sitzungen in den Kommunen, wo selbstkritisch im Kollektiv über die eigenen Fehler reflektiert wird.

 

Nach dem Abflauen der Proteste hat Leo Gabriel das Gefühl, dass er nach all dem nicht mehr einfach in das erzkonservative Österreich zurückkehren kann. Er verbringt eine Zeit lang in einem kleinen Fischerdorf in Südspanien. Dort reift sein Entschluss, nach Lateinamerika zu reisen. Inspiriert von Persönlichkeiten wie Che Guevara und den Aufständen der Arbeiter*innen und Student*innen in ganz Lateinamerika möchte Leo Gabriel dorthin, um die wirkliche Revolution zu suchen, wie er es nennt. In Mexiko, wo er sich zunächst länger aufhält, hat er sie nicht gefunden, dafür ein paar Jahre später in Nicaragua.

 

Leo Gabriel beschließt, sich vom gewohnten intellektuellen Umfeld abzukoppeln und liest für einige Zeit kein Buch mehr, weil er so leben möchte wie die Kleinbauern und -bäuerinnen. Zu Beginn der 1970er Jahre schließt er sich dann einer Straßentheatergruppe an und gründet später eine eigene Gruppe. Der Gedanke hinter dem Straßentheater ist die Ermutigung der Arbeiter*innen und Kleinbauern und -bäuerinnen, deren Selbstbewusstsein gestärkt werden soll. Dafür werden soziale Kämpfe der Arbeiter*innen und Bauern dokumentiert und dramaturgisch auf der Bühne dargestellt. Besonders an den Orten, wo gerade Streiks und soziale Konflikte stattfinden, soll den Aktivist*innen an der Basis bewusst gemacht werden, dass hartnäckiger Widerstand und solidarischer Zusammenhalt zum Erreichen der gemeinsamen Ziele führt. Auf den Spuren von Che Guevara, nur in umgekehrter Richtung, reist Leo Gabriel als Filmemacher zusammen mit Musiker*innen und Schauspieler*innen quer durch den Kontinent, von Mexiko bis nach Argentinien, bis die Gruppe Anfang 1976 wieder nach Mexiko zurückkehrt. Alles, was er gefühlsmäßig über Lateinamerika weiss, hat er sich in diesen fünf Jahren angeeignet, so Leo Gabriel. So lebt er mit den Kleinbauern und -bäuerinnen in Guatemala zusammen und lernt Aktivist*innen aus den sozialen Bewegungen kennen. Später lernt er auch Personen wie den Revolutionsführer und heutigen Präsidenten von Nicaragua Daniel Ortega kennen und andere, die bei den lateinamerikanischen Linksregierungen seit Beginn der Jahrtausendwende eine Rolle spielen wie z.B. Evo Morales, den ehemaligen Gewerkschaftsaktivisten der Kokabauern und heutigen Präsidenten von Bolivien.

 

Während andere Aktivist*innen von 1968 den langen Marsch durch die Institutionen antreten und sich manche mit den Verhältnissen arrangieren, bleibt Leo Gabriel bis heute ein 68er. Einen Grund dafür sieht er darin, dass er lange Jahre in Lateinamerika verbracht hat. Er ist nicht vor der Frage gestanden, innerhalb der staatlichen Institutionen für Veränderungen einzutreten, wofür sich viele 68er in Österreich besonders in den Kreisky-Jahren entschieden haben. Um 1978 herum wird Leo Gabriel als Journalist tätig. Die Mitarbeiter*innen der von ihm frisch gegründeten alternativen Presseagentur APIA (Agencia Periodistica de Información Alternativa) treten als Kollektiv auf und berichten aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Während die Ereignisse in Nicaragua zunächst kaum von den großen Medienunternehmen zur Kenntnis genommen werden, setzen später viele auf die Arbeit der kleinen APIA, die von Anfang an über den Umbruch in diesem zentralamerikanischen Land berichtet.

 

Die Regierungen reagieren an vielen Orten mit brutaler Gewalt und schlagen die Proteste 1968 nieder wie in Kalifornien, wo der Gouverneur und spätere US-Präsident Ronald Reagan die Nationalgarde auf Demonstrant*innen hetzt. In Mexiko werden während der Olympischen Spiele im Oktober 1968 von der Armee Tausende Menschen auf dem Platz der drei Kulturen massakriert. In vielen Ländern von Lateinamerika führt die harte Repression durch die Staatsmacht – nahezu überall sind Diktaturen an der Macht – zur Militarisierung der sozialen Konflikte nach 1968 und zur Bildung von Guerillabewegungen. In den meisten Ländern werden diese niedergeschlagen, nur in Guatemala und El Salvador können diese Bewegungen zeitweise größere Gebiete befreien und in Nicaragua gelingt 1979 der Sturz der Diktatur von Somoza durch eine bewaffnete Revolution. Die Saat dafür war 1968 gelegt worden, so Leo Gabriel, denn je nach politischer Ausgangslage führte sie in manchen Ländern zu einer zivilgesellschaftlichen und kulturellen Dynamik, in anderen Ländern zu revolutionären bewaffneten Bewegungen.

 

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gilt es vorübergehend als unzeitgemäß, sich für soziale Veränderung und Gerechtigkeit einzusetzen. Doch inzwischen ist es wieder möglich, in der Gesellschaft fundamentale Kritik am Kapitalismus zu äußern und Fragen nach Alternativen aufzuwerfen, wie etwa im Rahmen des Weltsozialforums, dem Leo Gabriel als Mitglied des Internationalen Rates bis heute angehört. Vielfältige soziale Bewegungen treten, auch in Europa, wieder in Erscheinung, die für die Rechte der Arbeiter*innen und Subalternen kämpfen. Dies zeigt, dass das Bewusstsein und die Ideen von 1968 noch heute aktuell bleiben.

 

veröffentlicht am 26.04.2018 auf Unsere Zeitung

Jasminduft in der Wohnung und Melonen im Pool

 

Eine Träne. Ein Lächeln

Luna Al-Mousli erzählt von ihren Kindheitserlebnissen in Damaskus

 

„Im heißen Sommer gab es immer Wassermelonen als Nachspeise. Sie wurden in den Pool geworfen, weil im Kühlschrank kein Platz war. Wir durften sie beobachten, wie sie weder untergingen noch wirklich oben schwammen. Wir spielten mit diesen Melonen, warfen sie hin und her, versuchten auf den Melonen zu stehen, bis sie auftauchten und uns ins Wasser warfen.“ (*)

Freiheit ist eine Erfahrung, die Luna in Syrien nur in den eigenen vier Wänden und im Garten ihres Großvaters macht. Im familiären Umfeld erlebt sie als Kind an diesen Orten eine schöne Zeit. Sie fühlt sich frei und hat Spass. Besonders im Garten ihres Großvaters hat Luna als Kind viel Freiheit genossen. Zusammen mit ihren Geschwistern tobt sie durch den Garten und probiert vieles aus. Für sie als kleines Kind sei es wie das Paradies gewesen, sagt Luna. Freudig erinnert sie sich an die vielen bunten Blumen, die Bäume, das Obst und Gemüse. Luna denkt gerne daran zurück, wie sie die Gurken, Tomaten und Weintrauben beim Wachsen beobachtet. Gemeinsam mit ihrem Opa pflückt und trocknet sie das Gemüse. Im Garten verbringt sie auch viel Zeit mit vergnüglichen, sportlichen Aktivitäten wie Radfahren, Basketball spielen und Schwimmen. Auch mit Tieren zusammen genießt Luna den Tag. Ganz gleich zu welcher Jahreszeit – im Garten gibt es immer etwas zu tun.

„Unser Salon veränderte sich, er wurde kleiner und größer. Zum Beispiel wenn wir Minze trockneten oder Lavendel. Oma legte eine weiße Decke auf den Boden und verteilte die Blätter. Der Geruch verbreitete sich in der ganzen Wohnung. Es ist erfrischend.“

Auch die Wohnung in einem Stadtteil der wohlhabenden Mittelschicht im neuen Teil von Damaskus ist ein Abenteuerspielplatz für Luna und ihre Geschwister. Die Kinder bemalen gerne die Wände. Es gibt viele Räume, die von den Kleinen genutzt werden, um Verstecken zu spielen. Auf die Frage, ob Luna als Kind alles gehabt habe, was sie braucht, antwortet sie, dass es ihr an nichts gefehlt habe. Womöglich haben ihre Eltern ihr nicht jeden Wunsch nach Schuhen oder Spielzeug erfüllt. Aber materielle Not hat Luna in ihrer Familie nicht gekannt.

 

„Die Wohnung war immer voll. Es gab keinen einzigen Tag, an dem ich alleine zuhause bin.“

Sie habe eine sehr schöne Kindheit gehabt hat, blickt Luna zurück. Sie fühlt sich in ihrer Familie gut aufgehoben und hat den Eindruck, dass gut für sie gesorgt und auf sie aufgepasst wird. Es ist immer viel los und es gibt viel zu tun. In ihrer Familie ist Luna immer mit jemandem zusammen und fühlt sich nie allein.

„Amme Samiha stand immer als Erste auf, wenn die Sonne aufging, um zu beten und dann mit der Nachbarin Rajaa spazieren zu gehen. Auf dem Rückweg pflückte sie Jasmin und legte ihn aufs Tablett neben ihre Kanne Grüntee. Das war ihr Morgenritual.“

Zu den Menschen, die Luna in ihrer Kindheit besonders nahe stehen, gehört ihr Opa Badr und eine Tante ihres Vaters, Samiha. Die Familie lebt zusammen mit der Großmutter väterlicherseits in einer Wohnung in der Innenstadt von Damaskus. Zur Schwester ihres Großvaters pflegt Luna eine enge Beziehung. Ihre Oma Fatma, die die Familien ihrer Kinder häufiger besucht und dann in der Wohnung übernachtet, wird von Luna als die geselligere von ihren Großeltern beschrieben. Ihr Großvater wiederum verbringt die meiste Zeit im Jahr in seinem Haus im Garten, das etwas außerhalb von Damaskus liegt. Daher hat es für Luna eine besondere Bedeutung, wenn die Familie immer am Wochenende ihren Opa im Garten besucht.

Luna denkt gerne an die ruhige und entspannte Stimmung bei ihrem Opa. Es gehört zu seinem Morgenritual, früh aufzustehen und die Pflanzen rechtzeitig vor dem Sonnenaufgang zu gießen. Danach macht er noch alles sauber und geht ein paar Runden schwimmen. Luna erinnert sich an die frische Luft, wenn sie schon in aller Frühe wach wird und aus dem Bett steigt. Ihr Großvater erzählt der kleinen Luna und ihren Geschwistern viele Geschichten und sie spielen gemeinsam Karten. Es bereitet ihr auch viel Vergnügen, wenn ihr Opa die Kinder zum Obst und Gemüse ernten in den Garten mitnimmt und ihnen zeigt, wie Marmelade zubereitet wird. Die gemeinsamen Spaziergänge mit ihrem Opa durch den Garten hat Luna immer sehr genossen.
„Politische Bildung war eines der wichtigsten Fächer in der Schule, genauso wie Mathematik und Arabisch. Wir lernten alles Mögliche über die Baath-Partei. Zur Prüfung kamen Assad-Zitate, die wir ergänzen und zeitlich einordnen mussten. Ich lernte alles auswendig. Ich verstand jedoch nichts.“

 

Außerhalb der Wohnung und des Gartens in Damaskus spürt Luna schnell, dass etwas anders ist als zu Hause und dass sie im öffentlichen Raum, in der Schule und auf der Strasse, nicht frei ist. Luna lernt, dass nicht alles, was sie als Kind zu Hause mitbekommt und was in der Familie gesprochen wird, nach außen getragen werden darf. Wirklich verstanden hat sie diese schützenden Verhaltensmuster erst später, nachdem sie Syrien mit ihrer Familie verlassen hat. Denn vorher stellt man einfach nicht so viele Fragen, erklärt sich das Luna. Sie kannte es als Kind auch gar nicht anders und die Möglichkeit zu vergleichen ergibt sich erst, nachdem sie in Österreich andere Verhältnisse kennen lernt.

 

Wien, kalte Stadt

Als Luna im jugendlichen Alter von 14 Jahren mit ihren Eltern und zwei Geschwistern nach Wien gekommen ist, hat sich schlagartig vieles verändert. Bisher hat sie immer andere Menschen um sich gehabt, denn zu Hause war immer jemand da. In Wien ist ihre Familie plötzlich allein. Im Haus, wo sie nun wohnen, sind sie umgeben von lauter unbekannten Menschen. In Damaskus hat die Familie ihre Nachbar*innen gut gekannt und man ist sich oft begegnet – etwa um sich zu einem festlichen Anlass zu beglückwünschen. „Das ist in Wien ganz anders,“ so Luna. Sie findet, Wien ist eine sehr kalte Stadt.

 

Lunas Mutter hat in Wien bald zu arbeiten begonnen. Dadurch hat sich auch der Tagesablauf für Luna verändert, denn nun musste sie lernen, mit einem Schlüssel umzugehen. In Damaskus war das schlicht nicht notwendig, da immer jemand zu Hause war, der die Tür öffnete. Wenn Luna in Wien die Haustür mit dem Schlüssel aufsperrt und die leere Wohnung betritt, dann fehlen ihr die vielfältigen Eindrücke und der Lärm, die sie in Damaskus gewohnt war.

 

Im neuen Zuhause ankommen

Sie ist hier in Wien inzwischen erwachsener geworden, denkt Luna. Sie geht gerne spazieren und trifft sich mit ihren Freund*innen, die für sie ihre Cousinen und Cousins in Damaskus ersetzen. In der ersten Zeit nach ihrer Ankunft in Wien macht Luna die Erfahrung, dass sie sich ihren Platz erst erkämpfen muss. In der Schule nimmt sie mit der Zeit mehr an gemeinsamen Aktivitäten in der Klasse teil und sie wächst als Jugendliche in einen Freundeskreis hinein. Sie erhebt ihre Stimme und spricht für sich selbst, auch oder gerade wenn sie einmal mit etwas nicht einverstanden ist.

Aber das war nicht von Anfang an so. Vorher fühlt sie sich nicht frei, denn Luna wird nicht sofort in der Gruppe akzeptiert, als sie nicht an allen Aktivitäten teilnimmt. Anfangs will sie sich mit der neuen Situation nicht abfinden, nachdem ihre Familie aus Damaskus nach Wien gekommen ist. Sie will eigentlich gar nicht in Wien sein. Luna hat als junges Mädchen noch nicht verstanden, warum die Familie aus Damaskus weggegangen ist, wo sie ihre sozialen Kontakte und vertraute Personen zurückgelassen hat. Wenn sie sich nur hartnäckig genug den geänderten Umständen widersetzt, gehen sie vielleicht wieder zurück nach Syrien, denkt Luna. Luna geht deshalb zunächst nicht gerne in die Schule, kommt oft zu spät und beteiligt sich nicht an Aktivitäten der Gruppe. Auch beim Einrichten der neuen Wohnung möchte sie nicht mithelfen. Schließlich muss ihre Mutter sie dazu drängen, am Projektunterricht teilzunehmen, damit sie andere Menschen kennen lernt. Und so kommt eines Tages der Augenblick, wo Luna plötzlich bemerkt, dass sie sich besser mit der neuen Wirklichkeit abfindet, da dies jetzt ihr neues Zuhause ist: „Und irgendwann checkt man dann, dass es gar kein Zurück mehr gibt. .. Und dann fängt man an, Kontakte zu knüpfen, an Aktivitäten teilzunehmen und neue Sachen auszuprobieren“.

Zwar sei die Unterdrückung in Syrien im öffentlichen Raum sehr spürbar gewesen, doch sie habe auch in Wien Unfreiheit erlebt, sagt Luna – sie sei nur viel versteckter als in Damaskus. Luna braucht eine Weile bis sie in die Klassengemeinschaft in ihrer neuen Schule hineinwächst. Geholfen hat ihr dabei eine Lehrerin. Ihr Klassenvorstand sorgt sich um sie und versucht, sie einzubinden. Diese Lehrerin lässt die Schüler*innen Portraits von verschiedenen Ländern gestalten, wobei Syrien nur eines von vielen darstellt. So verfährt die Lehrerin dann auch bei den Gruppenarbeiten über die verschiedenen Religionen, bei denen der Islam einen Platz neben den anderen erhält. Diese Lehrerin unterstützt Luna im Unterricht und sie „hat mir nie das Gefühl gegeben, dass ich weniger gut bin als die anderen, weil ich länger brauche – was sehr hilft“, so Luna. Einmal verteidigt diese Lehrerin sie gegenüber einer anderen Lehrerin, die sehr zornig wird und Luna zum Weinen bringt, nachdem sie so schnell im Dialekt spricht, dass Luna sie nicht verstehen kann. Diese Erfahrung hat Luna gezeigt, dass sie nicht allein ist und ihre Lehrerin hinter ihr steht. Wohlbefinden bedeutet für Luna, von den anderen als der Mensch akzeptiert zu werden, der sie ist. Dazu gehört, dass den anderen und ihr selbst der benötigte Raum zur Verfügung gestellt wird, um sich auszudrücken. Das gibt Sicherheit, sagt Luna. Denn gegenseitiges Respektieren ist wichtig, auch wenn man in verschiedener Hinsicht nicht die gleiche Meinung teilt.

 

We are Family

Heute pflegt Luna zu anderen Familienangehörigen vor allem Kontakt über Chats im Internet. Zu einem Anlass hat sich die Familie vor nicht allzu langer Zeit wieder getroffen, nämlich für die Verlobung ihrer Cousine, die heute in Kanada wohnt. Um dies mit einer angemessenen Feier zu begehen, hat sich die Familie in Beirut zusammengefunden, der einzige Ort, an dem wirklich alle sich versammeln können. Luna hat sich bei dieser familiären Feier gut amüsiert. Da niemand von den Anwesenden selbst vor Ort in Beirut gelebt hat, war die Organisation der Feierlichkeiten sehr aufwändig. Daher musste erst für alles Nötige gesorgt werden – angefangen vom gemeinsamen Essen bis zur Unterkunft im Apartment. Viele von den anwesenden Familienangehörigen hat sie schon seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen – während sie sich früher jede zweite Woche begegnet sind. Beim Treffen gab es viel zum Austauschen, weshalb sie in diesen Tagen nur wenig geschlafen hat.

In Wien fällt es Luna schon schwerer, einen bestimmten Platz auszumachen, den sie besonders bevorzugt wie die Wohnung und den Garten in Damaskus. Denn sie fühlt sich in der ganzen Stadt wohl – allein die Donauinsel besucht sie nur ungern. Luna lebt gerne in Wien und findet diese Stadt sehr abwechslungsreich – der Ort gibt ihr Sicherheit.
Nicht zu wissen, wie es jetzt ist, in Syrien zu leben, macht ihr Angst, schreibt Luna im Nachtrag ihres Buches. „Es ist nicht irgendein Land für mich. Es ist das Land, in dem noch ein Großteil meiner Familie wohnt. Es ist das Land, in dem ich meine Kindheit verbracht habe. Es ist das Land, in dem ich morgens Jasmin pflückte.“
(*) Zitate aus dem Buch „Eine Träne. Ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus“ von Luna Al-Mousli (2016)

 

unveröffentlicht, 12.02.2018