Das Recht auf ein Leben in Frieden (Victor Jara)

 

Juan Neira im Portrait

 

„Cancion popular“ von Luis Villarroel

Die Augen von Juan Neira leuchten und er beginnt herzhaft zu lachen, wenn er von den Kindern damals in Chile erzählt. Damals… das ist im Jahr 1970, als der sozialistische Präsident Salvador Allende gewählt wird und Juan selbst gerade mal 17 Jahre alt ist. In einem großen Park mitten in Santiago de Chile organisiert er für die Kinder soziales Kasperltheater. Die kleinen Knirpse, meist Kinder aus Arbeiter_innenfamilien, reden ihn ganz selbstverständlich mit „Companero“ an, also Genosse. Und Juan amüsiert sich noch heute prächtig, wenn er sich zurückerinnert, wie die Kleinen plötzlich Steine auf die Bühne werfen und den Puppenspieler_innen mit Holzlatten auf die Finger klopfen. Denn das Kasperltheater setzt die Ungerechtigkeiten und die Ausbeutung in Szene, unter denen die Arbeiter_innen seit jeher leiden. Das macht zu Recht wütend.

 

Aber lassen wir den Blick auf ein paar Jahre vorher schweifen. Juan Neira wird Anfang der 1950er Jahre in der chilenischen Hauptstadt Santiago geboren. Seine Familie mit bäuerlichem Hintergrund wandert aus dem Süden nach Santiago und lässt sich dort im Arbeiter_innenviertel Barrancas am Rande der Stadt nieder. Eine seiner frühesten Erinnerungen aus der Kindheit ist jene an Agustin, seinen Schulkollegen aus der ersten Klasse, die er in seinem Viertel besucht. Die Familie des kleinen Agustin ist so arm, dass sie ihn sogar im Winter ohne Schuhe in die Schule schicken muss. Juans Familie, die im Armenviertel Barrancas lebt, immerhin sogar mit einem eigenen Hof, verfügt wenigstens über genug Einkommen, um Juan zum Schulbeginn zwei Paar Schuhe zu kaufen. Juan bekommt so großes Mitgefühl mit Agustin, dass er ihm sein braunes Paar Schuhe schenkt. Fröhlich erzählt Juan, wie Agustin daraufhin glücklich über das Eis tanzt. Gleichzeitig die „erste große Enttäuschung für meine Eltern“, denn diese verstehen seinen Akt der Solidarität nicht, meint Juan im Rückblick. Ein anderes Erlebnis aus seiner Kindheit zeigt, dass Juan schon früh lernt, seine Stimme zu erheben, wenn er nicht einverstanden ist. In der privaten Franziskanerschule, die Juan von 1960 bis 1965 besucht, ist Fußball das einzige verbotene Spiel für die Schüler. Wahrscheinlich deshalb, weil dieser Sport den Priestern und Nonnen als „proletarisch“ gilt, vermutet Juan. Trotzdem oder gerade deshalb sorgt Juan dafür, dass die Schüler in der Mittagspause, wenn die Priester und Nonnen schlafen, mit einem improvisierten Ball aus Papier über den Hof fegen können. Mehr als einmal muss er deshalb zur Strafe in der Ecke stehen. Das hält ihn jedoch nicht davon ab, beim nächsten Mal wieder ein Match für die Schüler zu organisieren. Und auch zur Musik entwickelt er eine leidenschaftliche Beziehung, denn mit 12 Jahren beginnt Juan, sich mit Freund_innen zu treffen, um gemeinsam Gitarre zu spielen und zusammen zu träumen, wie er sagt.

 

Doch von den Fenstern zu Hause beobachtet Juan schon als kleines Kind die Gewalt der Sicherheitskräfte, wenn die Arbeiter_innen mal wieder streiken. Das Armenviertel Barrancas ist ein heißes Pflaster, wo in dieser Zeit viele soziale Konflikte stattfinden. Als Juan schließlich in die Handelsschule wechselt, gerät er zum ersten Mal in Berührung mit politisch aktiven Schüler_innen. In der Folge nimmt Juan an Schulstreiks teil und beteiligt sich auch an den Besetzungen, mit denen 1966 – ähnlich wie auch heute wieder – in Chile eine Bildungsreform gefordert wird. Mehrere Male wird Juan wegen einer Schulbesetzung der Schule verwiesen. Bei den Okupas, also den Landbesetzungen von obdachlosen Arbeiter_innen in Santiago, kann Juan nicht mitmachen, da er noch minderjährig ist und ihm bei einer etwaigen Verhaftung das Jugendgefängnis droht. Dennoch hilft er eifrig mit, indem er gemeinsam mit Companer@s alles Nötige für die Landbesetzung sammelt: Zelte, Lebensmittel, Kochgeschirr, Brennmaterial und er besorgt von Freund_innen eine chilenische Flagge. Denn die Landbesetzer_innen glauben, dass die Polizei weniger gewalttätig vorgeht, wenn eine Nationalfahne vor Ort gehisst wird. Das erweist sich als Irrglaube, denn die Räumungsversuche von Polizei und Armee laufen sehr brutal ab und oft werden dabei Kinder verprügelt und Menschen erschossen.

 

Als Salvador Allende bei seiner vierten Kandidatur zum Präsidenten gewählt wird, hegt auch Juan so wie viele andere Chilen_innen große Hoffnungen auf soziale Veränderung, Gerechtigkeit und ein gutes Leben für alle – auch wenn er der Regierung kritisch gegenüber steht. Juan gehört nämlich zu den „jungen Wilden“, in deren Augen der Prozess der Veränderung viel zu langsam vonstatten geht. Viele Arbeiter_innen und die Armen „machen Lärm“, um die Dynamik der gesellschaftlichen Veränderung durch die Poder Popular („Volksmacht“) zu beschleunigen. Salvador Allende hingegen möchte aus Angst, die politische Rechte im Land zu provozieren, lieber leiser treten. Aber der Faschismus zeigt seine hässliche Fratze schon in den Tagen, bevor Salvador Allende überhaupt als Präsident angelobt wird. Zwei Tage vor seinem Amtsantritt wird General Rene Schneider von Rechtsextremen ermordet, weil er sich loyal zur Verfassung bekennt und sich der Demokratie verpflichtet fühlt. Wenn Juan auf diese Zeit zurückblickt, dann fällt ihm auf, dass Salvador Allende der einzige chilenische Politiker ist, für den er mit den Jahren immer mehr Respekt entwickelt hat. Andere Politiker_innen, selbst aus dem linken Lager wie die heutige sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet, haben sich Juan zufolge mit den Verhältnissen arrangiert. So wurde das neoliberale Regime, das von der Pinochet-Diktatur gewaltsam durchgesetzt wurde, nach dem Übergang zur Demokratie zu Beginn der 1990er Jahre nicht in Frage gestellt und bruchlos fortgeführt.

 

Am 11.September 1973 werden die Träume und Hoffnungen von unzähligen Chilen_innen furchtbar zerschmettert und der Schrecken der Militärdiktatur von General Pinochet verbreitet von nun an Terror. Juan hat großes Glück, denn er entgeht mehrmals den Schergen der Diktatur, einmal sogar nur um wenige Minuten. Drei Monate vor dem Putsch wird er mit anderen aus dem elektrotechnischen Betrieb entlassen, wo Juan mit der Organisation des Puppentheaters betraut ist, weil die Firmenleitung den Verdacht „revolutionärer Umtriebe“ äußert. Nun befindet sich gegenüber dem Parque O’Higgins, wo sich die Kinderbühne befindet, eine Kaserne. Die Entlassung hat ihn also sozusagen gerettet, denn gleich nach dem Putsch stürmt die Armee den Park und viele Arbeiter_innen werden zu Opfern der Diktatur. Auch das Haus seiner Eltern wird immer wieder von Militärs durchsucht. Für Juan beginnt nun eine sehr schwere Zeit. Um den Schergen der Diktatur nicht in die Hände zu fallen, sucht Juan Hilfe beim Anwaltsbüro der ökumenischen Friedensbewegung. Erst wird ihm nahegelegt, dass er das Land besser verlassen solle. Als Juan jedoch ein Visum nach Deutschland ablehnt und seine feste Überzeugung zum Ausdruck bringt, in Chile bleiben zu wollen, sind die Vertreter_innen der Kirche so beeindruckt, dass sie ihm Unterstützung anbieten. Im darauf folgenden Jahr ist man ihm dabei behilflich, sich sicher durch Santiago zu bewegen und vor der Diktatur zu verstecken.

 

Trotz aller Widrigkeiten bleibt Juan sein rebellischer Geist erhalten. Er veranstaltet gemeinsam mit Companer@s in verschiedenen Lokalen und Kirchen am Stadtrand Benefizkonzerte für die Angehörigen der politischen Gefangenen und kocht und sammelt für Hunger leidende Menschen. Dabei hat Juan selbst kaum etwas. Für die Diktatur erscheinen Menschen mit Gitarre und Flöte sogar noch verdächtiger als bewaffnete Guerilleros. Und wieder entkommt Juan nur knapp der Verfolgung: Bei einem Konzert trägt er ein Lied vor, das Kritik am Militär übt. Plötzlich bemerkt er im Publikum eine Frau, die ihm Zeichen gibt. Da er nicht versteht, was sie von ihm will, denkt er, dass die Frau durcheinander sei. Nach dem Ende des Liedes wirft Juan einen Blick ins Publikum und bekommt plötzlich Angst, als er im Hintergrund die Helme von Soldaten erkennt. Schnell verabschiedet er sich, wirft seine Gitarre weg und flüchtet über eine Mauer. Mit einem Schlag wird ihm klar, dass die mutige Frau im Publikum ihn mit ihren Zeichen warnen wollte.

 

Im Jahr 1980 – Juan ist inzwischen Vater von zwei Kindern – sieht Juan überhaupt keine Perspektive mehr in Chile. Seine Familie wird von der Armee belästigt und dem Widerstand im Untergrund gelingt es nicht, adäquate Antworten auf die Repression zu finden. Die Massenproteste, die letztlich dazu beitragen werden, die Diktatur zu Fall zu bringen, beginnen erst drei Jahre später. Um seine Kinder zu schützen und weil er keinen Handlungsspielraum mehr sieht – außer „auf die Haft zu warten“ – flieht Juan aus Chile und sucht in Österreich um Asyl an. Neben musikalischen Arbeiten für Dokumentationen und das Fernsehen tritt Juan nun auf Festivals auf. Er fängt an, mit Jugendlichen zusammen zu arbeiten, bringt ihnen die Musik näher und unterrichtet sie in verschiedenen Instrumenten. Bald gehen Musikgruppen wie „Lican Antai“, „Copihues“, „Musikwerkstatt Arco Iris“, „Marca Tambo“ und „Musikwerkstatt Mallarauco“ daraus hervor, mit denen er unzählige Konzerte bestreitet sowie die „Notenchaoten“, die in ihrer Kunst lateinamerikanische Musik mit deutschen Texten verbinden. Überhaupt sieht sich Juan als Brückenbauer zwischen Südamerika und Österreich und gibt gerne Konzerte mit chilenischen und österreichischen Einflüssen. Als Obmann des Centro Once/Stadtteilzentrum Simmering trägt Juan schließlich dazu bei, dass dieses Kulturzentrum in der Schneidergasse im 11. Wiener Gemeindebezirk zu einem Ort wird, an dem viele künstlerische Ausdrucksformen zusammenfließen und durch gegenseitige Befruchtung die Menschen erfreuen. Hier werden Menschen, gleich welcher Herkunft, dabei unterstützt, Kunstprojekte mit möglichst geringem finanziellem Aufwand umzusetzen.

 

In Österreich, wo Juan mittlerweile länger lebt als in Chile, fühlt er sich wie in seinem „Habitat“, mit allen Vor- und Nachteilen. Das ist nicht immer so gewesen. Anfangs fühlt er sich hier nicht wohl und empfindet Traurigkeit. Denn er hat bei seiner Flucht aus Chile nicht nur all seine Freund_innen und Companer@s zurück lassen müssen. Seine neue Umgebung ist für ihn auch wie ein Kulturschock. Denn alles scheint hier schon gemacht und gut zu laufen. Juan muss sich also erst auf die Suche nach einer Aufgabe in der Gesellschaft machen. Und er entdeckt sie bald: Zusammen mit anderen Musiker_innen besucht er regelmäßig Krankenhäuser und Altersheime, um den Menschen dort eine Freude zu bereiten. Natürlich kostenlos, denn Juan hätte ein schlechtes Gewissen, dafür auch noch Geld zu verlangen, sagt er. Seine materielle Situation ist nicht gerade rosig, aber auf dieser Ebene möchte er sich ohnehin nicht mit anderen Menschen verglichen wissen. Juan begegnet anderen Menschen nämlich auf gleicher Augenhöhe und er erfährt in seinem Umfeld die gleiche respektvolle Behandlung. Trotzdem weiß er, dass das in Österreich keine Selbstverständlichkeit ist und Menschen aus Afrika oder Afghanistan auch weniger angenehme Erfahrungen im Alltag machen. Für Juan gehört aber genau dieses Gefühl – nicht mehr und auch nicht weniger als alle anderen zu sein – unbedingt dazu, um sich in einem neuen Land wohl zu fühlen. Gerade von anderen Künstler_innen erfährt Juan eine große Freundlichkeit und Zuneigung. Und dies trägt wohl auch dazu bei, dass er Österreich als sein „Habitat“ erlebt. Der Antrag auf die österreichische Staatsbürgerschaft vor drei Jahren ist für Juan nur noch eine Formalität. Er denkt lange Jahre gar nicht an diese Option oder etwaige Vorteile und lässt sich schließlich von Freund_innen dazu überreden: „Mach das“, reden sie ihm zu, „es ist genug, du bist schon von da, mach die Staatsbürgerschaft“. Jetzt, wo er die Staatsbürgerschaft besitzt, die seinen Flüchtlingsstatus beendet, ist es ihm auch offiziell erlaubt, nach Chile einzureisen.

 

Wenn er Chile besucht, um seine Mutter und Freund_innen zu treffen, so dauert es jedes Mal ein bisschen bis Juan sich wieder akklimatisiert hat. „Ach Juan, du wurdest in Österreich germanisiert“, scherzen seine Freund_innen gerne, wenn er mal wieder pünktlich auf die Minute zu einem Treffpunkt kommt und dann lange warten muss bis seine Freund_innen nach und nach eintrudeln. Dazu muss man wissen, dass es in Chile üblich ist, entspannt eine Stunde später zu einem abgemachten Treffen zu kommen, wobei eine Viertel Stunde bis 20 Minuten zusätzliche Verspätung noch als höflich gelten. Juan genießt jedenfalls seine Aufenthalte in Chile zusammen mit Freund_innen auf dem Land bei Rotwein und Empanadas, man vergnügt sich auf Konzerten und es wird viel gemeinsam gelacht.

 

gekürzte Fassung erschienen in: Augustin 400 (28.10-10.11.2015)

 

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