„Mi Grätzel es tu Grätzel“

 

Überlegungen, was Stadtteilarbeit in Simmering bewegen kann

 

Simmering liegt am Rand von Wien. In jedem Fall geographisch, aber vielleicht auch sozial. Fragt man Außenstehende, was sie mit dem 11. Wiener Gemeindbezirk spontan assoziieren, so bekommt man mitunter Antworten zu hören wie „Zentralfriedhof“ oder „Müllverbrennung“. Jedoch fehlt in dieser Wahrnehmung, dass sich in Simmering genauso belebte Orte finden wie anderswo, mit dem Unterschied, dass der 11. Bezirk zur Peripherie und nicht zum urbanen Zentrum von Wien gehört. Zudem stellt sich die Frage, wie der öffentliche Raum von den BewohnerInnen Simmerings selbst wahrgenommen wird: als allgemein zugänglicher Ort, der von den vielfältigsten Menschen aus den verschiedensten Gründen besucht und genutzt wird und wo ein soziales Miteinander stattfindet, ein Ort des Kennenlernens und der Kommunikation, der bunt gestaltet und mit Leben erfüllt werden will – oder als nüchterner Ort der kommerziellen Tätigkeiten, des effizienten Verkehrs und der städtischen Infrastruktur?

 

Um sich einer Antwort darauf anzunähern, lohnt sich eine Auseinandersetzung mit den Aktivitäten der Stadtteilarbeit in Simmering. Denn gerade die Sichtweisen von Menschen, die bereits aktiv in die Gestaltung des öffentlichen Raumes involviert sind, können den Blick erweitern und neue Horizonte eröffnen, was alles im Bezirk möglich ist, das die engen Grenzen städtischer Verwaltung und ökonomischer Verwertung überschreitet. Durch das kreative und selbstbestimmte Tätigwerden im eigenen urbanen Umfeld wird letztlich auch das „Recht auf Stadt“ greifbar und es harrt so der Verwirklichung für jeden Bewohner und jede Bewohnerin der Stadt.

 

Fragend gehen wir voran

 

Um herauszufinden, was den Leuten im Bezirk und im Grätzel unter den Nägeln brennt, liegt es nahe, sich zunächst forschend und fragend auf den Weg zu begeben. So weist Pfarrer Carsten Marx vom evangelischen Gemeindezentrum Arche darauf hin, dass man Antworten erwarten darf, „wenn man den Menschen begegnet und ganz konkret Fragen stellt“. Auch in der Arbeit der Gebietsbetreuung spielt es eine wichtige Rolle, bei städtischen Umgestaltungen wie geplanten Bauvorhaben die Meinung der Bevölkerung vor Ort einzuholen und in kommunale Prozesse zu integrieren, so Andrea Breitfuss von der GB*3/11. So werden etwa im Rahmen eines mobilen Würstelstandes auf der Simmeringer Hauptstrasse unter dem Motto „Gib deinen Senf dazu“ PassantInnen befragt, was ihnen an der Strasse gefällt und was nicht. Hintergrund für diese Aktion ist laut Breitfuss eine allgemeine Unzufriedenheit der BewohnerInnen mit Entwicklungen wie dem häufigen Auszug und Neueinzug von Geschäften. Es gehe dabei vor allem darum, das Image der Simmeringer Hauptstrasse zu verbessern, da diese eigentlich eine funktionierende Geschäftsstrasse sei.

 

Erforschung der Bedürfnisse im Grätzel

 

Zur Arbeit der GB*3/11 gehört neben dem Koordinieren verschiedener urbaner Akteure und Institutionen auch die konkrete Aktivität im Viertel. Wenn die MitarbeiterInnen der GB*3/11 in ein Grätzel gehen und feststellen, dass es zB an Bildungsmöglichkeiten mangelt, dann werden Institutionen gesucht, die entsprechende Ressourcen anbieten können: „Wir versuchen vorher auch schon herauszukriegen, was braucht ein Viertel, was brauchen die Leute vor Ort? Das ist immer wieder ein Schauen, ein Analysieren und Menschen zusammenbringen, über Themen der Versuch, Impulse anzustoßen in verschiedenen Bereichen“, so Andrea Breitfuss.

 

Das Kulturzentrum Centro Once soll nach der Vorstellung seines Obmannes Juan Neira ein Laboratorium sein, wo Menschen sich treffen und Verschiedenes lernen können. Besonders Menschen aus diversen Herkunftsländern von Vietnam über Chile bis Somalia finden dort eine Plattform, um ihre Sprache, Tänze, Musik und Theater zu kultivieren. Und es geht auch darum, eine gemeinsame Sprache zu finden und sich auszutauschen. In diesem Sinne leistet das Centro Once einen Beitrag zu einer „Integration von unten“, die von den Betroffenen selbst in die Hände genommen und bestimmt wird. Juan Neira: „Viele Menschen kommen hier her, um etwas zu lernen, (..) und zu helfen. (.. ) Ziel ist der Mensch, keine politische Idee, außer Humanismus. Keine Meinung ist besser als die andere, keine Hautfarbe ist schöner als diese, keine Sprache ist weniger schön als die andere. Also da treffen sich Menschen.“ So erlebt Neira viele schöne Momente und zwischenmenschliche Höhepunkte im Centro Once und meint über seine Arbeit: „Das ist wie eine Brücke, (um) zu diesem Laborhaus zu kommen“, wo verschiedene kulturelle Erfahrungen zusammentreffen.

 

Der Verein Balu & Du widmet sich ganz der Kinder- und Jugendarbeit, im Sommer hauptsächlich durch die Parkbetreuung und Spiele mit freizeit- und erlebnispädagogischem Hintergrund sowie Ausflüge und im Winter verstärkt durch verschiedene Aktivitäten in den Räumlichkeiten des Vereins. Zu den Prioritäten des Vereins gehören die Erweiterung der Handlungsspielräume von Kindern und Jugendlichen, die Förderung von Selbstbestimmung, Kreativität und Bildung im weiteren Sinne sowie eine gender-gerechte Arbeitsweise, die Bekämpfung von Diskriminierung und die Gewaltprävention. Dabei sind Obmann Norbert Gollinger zufolge der ständige Kontakt mit den Menschen in der Umgebung und ein regelmäßiges Angebot sehr hilfreich dabei, Beziehungen zu den Leuten im öffentlichen Raum aufzubauen – Balu & Du ist im Laufe der Zeit zu einem Ansprechpartner für verschiedene Anliegen nicht nur von Kindern und Jugendlichen geworden. Mobile Teams von SozialarbeiterInnen durchforsten abendlich die Grätzeln mit wachsamen Augen für Konflikte oder infrastrukturelle Mängel. Dabei soll darauf geachtet werden, möglichst schon präventiv zu wirken und wenn bereits ein Konflikt ausgebrochen ist, so greifen die MitarbeiterInnen vermittelnd ein.

 

Partizipation und Streit um den öffentlichen Raum

 

Der Klubobmann der Simmeringer Grünen, Herbert Anreitter, weist darauf hin, dass zwar bei den Grünen eine grundsätzliche Offenheit für Inputs aus der Nachbarschaft besteht, jedoch schränkt er ein, dass die Partizipation dort eine Grenze findet, wo „Dinge gefordert werden, die unseren Prinzipien zu wider laufen“. Man könne sich nicht lange mit Anliegen aufhalten, die überspitzt formuliert darauf hinauslaufen, „weniger Radwege und mehr Parkplätze“ zu verlangen. In konkreten Fällen wissen aber die Menschen, dass sie sich auf die Grünen verlassen können, so wurde auf Druck der Grünen durchgesetzt, dass die B228 zumindest in den fünf Jahren der rot-grünen Stadtregierung nicht durch das Wohngebiet beim Gasometer gebaut wird.

 

Auch für die GB*3/11 spielt es eine wichtige Rolle, im Rahmen ihrer koordinierenden Aktivitäten auch ein Meinungsbild der BewohnerInnen mit einzubeziehen. Es gilt dabei ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass auf der Strasse mehr passieren kann und andere Dinge möglich sind als nur der gewohnte Verkehr. Die MitarbeiterInnen der GB*3/11 versuchen – auch durch Aktionen – Raum für einen Diskurs zu schaffen, „um andere Ideen in den Köpfen entstehen zu lassen. Wir stellen Liegestühle auf und machen zusammen mit dem Centro Once ein Strassenfest.“ Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Grundlage für die Meinungsbildung schon lange im Vorfeld eines etwaigen Bauvorhabens geschaffen werden muss: „Wir halten es nicht für so sinnvoll, wenn man immer nur dann, wenn jetzt gleich etwas gebaut werden soll, die Leute quasi überfällt, (..) weil viele Menschen sich mit dem öffentlichen Raum gar nicht so auseinander setzen“, so Andrea Breitfuss. Bei Interessenkonflikten im öffentlichen Raum versucht die GB*3/11 vermittelnd und ausgleichend einzugreifen und durch beratende Gespräche den Konflikt zu entschärfen, etwa dann, wenn eine Hausverwaltung keine Bereitschaft zeigt, mit den MieterInnen zu kommunizieren. So befördert Breitfuss zufolge oft schon das auf den Tisch bringen des Konfliktes eine gewisse Offenheit, die eigene Position zu relativieren.

 

Für Norbert Gollinger von Balu & Du ist die Partizipation von Kindern und Jugendlichen ein wichtiges Anliegen. Zum einen sollen sie mitbestimmen, was im Rahmen der Aktivitäten des Vereins passiert, zum anderen werden die Sichtweisen der Kinder und Jugendlichen bei Bauvorhaben im öffentlichen Raum eingebracht. So werden etwa Workshops an Schulen durchgeführt, um bei der Anlage eines neuen Spielplatzes die Bedürfnisse der Kinder herauszufinden – konkret haben die Ideen der Kinder schon ihren Ausdruck in den Spielplätzen beim Ostbahn 11 Platz und im Braunhuber Park gefunden, die ganz nach den Vorstellungen und Wünschen der Kinder gestaltet wurden.

 

Gerade auf der Ebene des Stadtteiles ist nach Ansicht von Pfarrer Marx die partizipative Demokratie, die in den letzten Monaten in aller Munde ist, am leichtesten umzusetzen, denn „was die Menschen vor Augen haben, damit können sie umgehen“. Das Grätzel, wo sie zu Hause sind, ist das Umfeld, wo die Leute am ehesten reflektieren können, welche Anliegen sie betreffen und ihnen wichtig sind. Eine Einschränkung ergibt sich daraus, dass die meisten Menschen neben Arbeit und Familie kaum noch Zeit haben, sich mit solchen Fragen zu befassen.

 

Für den Aktivisten und Sozialarbeiter im Untergrund Carlos Rojas braucht Partizipation aber auch eine hohe Frustrationstoleranz. Der langjährige Bezirksrat der Grünen in Simmering musste erleben, wie viele seiner Anträge abgelehnt wurden. Andere wurden zwar einstimmig angenommen, passiert ist jedoch nichts – so zB sein Antrag für die Asphaltierung eines Wegstückes bei einer Bushaltestelle in der Nähe von Macondo. Seit 20 Jahren wird seitens der BewohnerInnen von Macondo der Dialog mit den politisch Verantwortlichen gesucht, jedoch gewinnt man den Eindruck, dass die Gemeinde Wien ihr Gegenüber nicht als Gesprächspartner wahrhaben möchte. Für Rojas stellt sich daher die Frage, ob der diplomatische Ton noch ausreicht, um sich Gehör zu verschaffen. Mit Blick auf andere Länder fällt auf, dass es eine ganz andere Demonstrationskultur gibt und es ist üblich, durch spektakuläre Aktionen des zivilen Ungehorsams die Öffentlichkeit auf Missstände aufmerksam zu machen.

 

Ein steiniger Weg

 

Ein Problem, mit dem Stadtteilarbeit prinzipiell umgehen muss, sind die vorhandenen Ressourcen, sowohl in personeller wie auch materieller Hinsicht. So kann etwa das Centro Once, das nur durch ehrenamtliche Mitarbeit und unter prekären finanziellen Verhältnissen am Laufen gehalten wird, keine großen Sprünge machen und die Stahltreppen in den Keller konnten erst nach sechs Jahren durch eine Steinstiege ersetzt werden. Auch der GrünRaum Leberberg, das zwischen Ende 2007 und Anfang 2011 bestehende Lokal der Simmeringer Grünen, hatte mit chronischer Unterbesetzung zu kämpfen. Es war der Versuch, in einer Wohnumgebung Fuß zu fassen, die gemessen an den Wahlergebnissen für die Grünen eher ein „schwieriges Pflaster“ darstellt, so Herbert Anreitter. Mit dem GrünRaum Leberberg wurde auch der Versuch unternommen, abseits der Arbeit in den Gremien eine Anlaufstelle für alle Altersgruppen aufzubauen, wobei Angebote wie das Projekt „Speak up Leberberg“ sich speziell an Jugendliche richteten. Laut Anreitter seien solche Veranstaltungen am besten bei den Menschen angekommen, die auf einer niederschwelligen Ebene politische Botschaften mit Spiel und Spass verbunden haben wie zB ein Tischfußballturnier. Auch den Foto-Workshop für Mädchen sieht Anreitter positiv, denn für die Mädchen habe sich das Thema „Mit einander Leben in Wien“ als wichtiges Anliegen herauskristallisiert. Explizite Aufforderungen zur Mitarbeit seien jedoch von den Jugendlichen weniger angenommen worden. Vielleicht sind die Grünen mit ihren Botschaften für ein gutes Zusammenleben zu direkt an die Leute herangetreten, übt Anreitter Selbstkritik, dennoch war der GrünRaum Leberberg ein spannendes Experiment, das primär an den finanziellen Mitteln letztlich gescheitert ist. Zudem haben sich der Antifaschismus und Antirassismus gerade in dieser Gegend als drängende Themen heraus gestellt, was sich nicht zuletzt darin ausdrückte, dass die Grünen zwei Mal Hakenkreuz-Schmiererein von der Fassade des GrünRaumes entfernen mussten.

 

Bezogen auf ein latentes Gewaltproblem im Bezirk und zahlreiche soziale Probleme weist Norbert Gollinger darauf hin, dass die MitarbeiterInnen von Balu & Du darauf reagieren, indem sie die Räumlichkeiten häufiger aufsperren und öfter in den Parks unterwegs sind. Der Verein ist beratend tätig und vermittelt Kinder und Jugendliche, die Opfer von Gewalt sind, an die entsprechenden Einrichtungen weiter, selten auch durch Begleitung. Einen Beitrag zur Gewaltprävention leistet Balu & Du dadurch, dass klare Grenzen gezogen werden und aufgezeigt wird, dass Gewalt nicht akzeptiert wird.

 

Juan Neira stellt fest, dass es in Chile, von wo er als junger Erwachsener vor der Pinochet-Diktatur geflüchtet war, eine ganz andere soziale Kultur gibt als in Österreich. Zwar leiden die chilenischen Armen und ArbeiterInnen eine größere Not und Entbehrung als hier, dennoch gibt es in Chile weniger das Problem der sozialen Vereinsamung, da man sich dort täglich auf der Strasse trifft. Im Centro Once bemerkt er manchmal Integrationsprobleme, jedoch weniger zwischen MigrantInnen und Einheimischen, sondern häufiger bei Einheimischen, die gewisse Berührungsängste und Schüchternheit an den Tag legen, wenn sie das Centro Once zum ersten Mal besuchen – eine Art von Integrationsproblem, das es etwa in den chilenischen Armenvierteln einfach nicht gibt, so Neira. Ähnliche Erfahrungen hat das Centro Once ganz zu Beginn gemacht, als es in der Nachbarschaft noch Vorurteile gab, diese wurden durch das Kennenlernen des Centro Once über die Jahre abgebaut. Die Leute begrüßen Juan Neira inzwischen kumpelhaft mit „Amigo“, wenn sie ihn auf der Strasse treffen, und so feierte das Kulturzentrum am 15.9. bereits sein 10-jähriges Bestehen mit einer Hommage an den chilenischen Musiker Victor Jara.

 

„Integration“ besitzt auch für die GB*3/11 eine Relevanz, jedoch in einem weiter gefassten Sinne als nur die in der gesellschaftlichen Debatte übliche Beschränkung auf Migration. Es geht Andrea Breitfuss zufolge darum, dass alle Menschen in einem Viertel teilhaben können. Es betrifft also auch Fragen wie Barrierefreiheit, Sprachkompetenzen und Bildung, von denen sehr viele Menschen betroffen sind. Darin, das Zusammenleben zu stärken, sieht die GB*3/11 ihre Aufgabe.

 

Pfarrer Marx beobachtet gerade in Simmering eine gewisse Skepsis und Vorbehalte gegenüber allem, was den Eindruck der Erneuerung und Umwälzung erweckt. Es sei schon schwierig genug, die Menschen zum Mitarbeiten und Planen bei Angelegenheiten ihres Grätzels zu bewegen. Ein Problem sieht er auch darin, dass die kommunale Politik in Wien, gerade unter Rot-Grün, es nicht ausreichend zu vermitteln vermag, was sie erreicht hat, weshalb der Spielraum für soziale Veränderungsprozesse hier nicht gerade berauschend ist. Insgesamt brauche man in Simmering einen langen Atem, um etwas durchzusetzen oder auch nur Verbesserungsvorschläge zu machen. Denn die „Menschen (nehmen) gewisse Zuckerln einfach nicht an (..) und wissen gar nicht, wie schön manches Zuckerl sein und schmecken kann.“

 

Balu im Niemandsland von Macondo

 

Für Carlos Rojas stehen die Kreisky-Jahre für eine andere, nämlich ernsthafte Integrationspolitik. Und zwar in einem weiteren Sinne: es gab mehr direkten Kontakt zu PolitikerInnen und die Menschen waren damals leichter dazu zu bewegen, für allgemeine Freiheiten und gegen Gewalt, von Kurdistan bis Lateinamerika, auf die Strasse zu gehen. Diesen Zusammenhalt und die Solidarität vermisst Carlos Rojas in der heutigen Politik, denn selbst die Grünen haben sich von ihrer ehemals widerständigen politischen Praxis verabschiedet. Der Kern des Problems in Macondo besteht Rojas zufolge darin, dass in dem gleichen Maße wie das Klima in Macondo an sozialen Spannungen zugenommen hat, sich die Politik aus der Verantwortung zurückgezogen hat. Beispielhaft lässt sich das daran erkennen, dass der Österreichische Integrationsfonds seine Aktivitäten in Macondo aus finanziellen Gründen eingestellt hat – eine grob fahrlässige Vorgehensweise, denn nun sind die Menschen in der Flüchtlingssiedlung vollkommen auf sich allein gestellt. Zu allem Überdruss wurde den BewohnerInnen nun auch noch ein Schubhaftzentrum für Familien hingepflanzt. Es geht laut Rojas um die zentrale Frage, welche Verantwortlichkeiten daraus erwachsen, dass Macondo eine Flüchtlingssiedlung ist. Zwar befindet sich das Areal im privaten Eigentum der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG), die von den BewohnerInnen ja auch Einnahmen durch Miete und Pacht lukriert, aber zugleich werden die grundlegenden Rechte und Bedürfnisse der BewohnerInnen, zB auf Müllentsorgung, Gartenpflege und Sicherheit nicht ernst genommen. Den BewohnerInnen wird nicht einmal ein Recht auf eine Betriebskostenabrechnung gewährt, sie wissen also gar nicht, was mit ihrem Geld tatsächlich geschieht. Während es zwar gewisse Regeln gibt, wie die Miete zu bezahlen, fehlen ganz klar solche Spielregeln, die für ein friedliches Zusammenleben notwendig wären. Rojas zufolge gilt Macondo den Behörden gewissermaßen als Niemandsland, wo kein Mensch lebt, und daher fühlt sich niemand als zuständig. Von offizieller Seite wird Macondo aufgrund der Eigentumsverhältnisse nicht als Teil von Simmering betrachtet. Carlos Rojas hofft deshalb, dass ein Konsens gesucht wird, um einen Weg zu finden, aus Macondo auch rechtlich eine Siedlung zu machen, in der es Verantwortlichkeiten gibt. Ob die Gemeinde den Grund nun kauft oder eine andere juristische Möglichkeit offen steht, müssen Fachleute entscheiden. So besteht im Moment zB der Sportplatz nur aus Sand, Steinen und Löchern, was die Verletzungsgefahr bei den Jugendlichen enorm steigert – in welcher anderen Siedlung von Wien würde die Gemeinde das einfach hinnehmen? Carlos Rojas wünscht sich, dass Macondo eine Siedlung wie der Leberberg oder Thürnlhof wird – eine Siedlung, „die zu Wien gehört, ein Teil Wiens, den wir auch im Grundbuch eintragen, als öffentliches Gut. Und plötzlich hätten dort die MA 40 und MA 30 zu tun, also Kanal, Garten, Strassen und Beleuchtung“. Denn „überall gibt es Parks von der Gemeinde. Wenn sich da ein Spielgerät als gefährlich erweist, ist eine Behörde da, die es sperrt, saniert oder auswechselt. (..) Es gibt eine gewisse Reaktion, weil die BewohnerInnen geschützt werden müssen“ – nicht jedoch in Macondo, so Rojas. Die Polizei kommt nur dann nach Macondo, wenn bereits ein Konflikt eskaliert ist, wie vor einigen Jahren als es mehrere Schwerverletzte gab, u.a. eine Pensionistin aus Ungarn, die versucht hatte, schlichtend einzugreifen. Carlos Rojas hält angesichts der Tatsache, dass viele Flüchtlinge, die schwere Traumatisierungen erlitten haben, in Macondo wegen der fehlenden Betreuung auf sich allein gestellt sind und den daraus erwachsenden Konflikten zwischen den BewohnerInnen eine Mediation für äußerst wichtig, um die Lage zu entschärfen. MediatorInnen, die bei Nachbarschaftskonflikten intervenieren, „müssten (in Macondo) ständig sein, weil es einfach ein Pulverfass ist!“ appelliert Rojas.

 

Die Kleingartensiedlung in Macondo geht darauf zurück, dass die ansässigen AsylwerberInnen das ursprünglich bewaldete Gebiet selbständig zu kultivieren begannen. Mit der Übernahme des Grundstückes durch die BIG wurde von den KleingärtnerInnen Pacht verlangt, die sich viele nicht leisten konnten und daher ihren Garten aufgeben mussten. Die KünstlerInnengruppe Cabula 6, die einige Zeit in Macondo aktiv war, sah in der Idee eines Gemeinschaftsgartens eine sinnvolle Weiterführung ihres Projektes, um den landlos gewordenen GärtnerInnen wieder eine Chance zum Gärtnern zu verschaffen. Cabula 6 beauftragte den Verein gartenpolylog mit der Organisation und seit 2010 gibt es in Macondo nun den Nachbarschaftsgarten, an dem sich Menschen aus verschiedensten Herkunftsländern beteiligen. Der Garten soll ebenso Handlungsfreiräume außerhalb der eigenen vier Wände eröffnen wie auch durch gemeinsames Gärtnern die sozialen Beziehungen zwischen den AsylwerberInnen vertiefen. Selbst die Tatsache, dass neu zugezogene Flüchtlinge nur wenige Jahre in Macondo bleiben dürfen, hält sie nicht von einer Teilnahme ab, dazu David Stanzel von polylog: „Es gibt viele afghanische Frauen, die sehr glücklich sind, dort zwei Jahre lang ihren Koriander anbauen zu können, meistens in Monokultur, so große Plantagen“. Für Stanzel ist das Schöne daran, dass verschiedene Kulturen – nicht nur Herkunftsländer, sondern auch soziale Kulturen – zusammenkommen und gemeinsam gärtnern und essen und die Stimmung zwischen den Menschen eine sehr wohlwollende ist. Das Gärtnern hat für manche Flüchtlinge, die oft sehr wilde Erfahrungen hinter sich haben, etwas Heilsames und kann dabei helfen, traumatische Erlebnisse zu bewältigen und sich hier einzurichten.

 

Obwohl Macondo quasi als „ex-territoriales Gebiet“ und nicht als Teil von Simmering betrachtet wird, duldet die Bezirksvertretung die Präsenz von Vereinen wie Balu & Du. Der Verein ist regelmäßig in Macondo anwesend und sucht den Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen vor Ort, die diversen Aktivitäten wie Ausflüge werden von diesen begeistert angenommen. Seit der Österreichische Integrationsfonds einen Teil seiner Aktivitäten in Macondo eingestellt hat, gibt es immer wieder Versuche, an runden Tischen die Verantwortlichen ins Gespräch zu verwickeln, denn es gibt ein starkes Bedürfnis, dort wieder Gemeinwesenarbeit zu etablieren. Die BewohnerInnen von Macondo brauchen Ansprechpartner und soziale Unterstützung, doch wird dies dadurch erschwert, dass die Zuständigkeiten nicht klar definiert sind, so Norbert Gollinger. In positives Erstaunen versetzt hat viele Personen der Vorschlag der BIG, ein ähnliches Modell für Macondo anzuwenden wie es im grünen Prater bereits üblich ist: Zumindest Teile des Geländes könnten von der MA 42 (Stadtgärten) verwaltet und de facto wie ein öffentlicher Raum behandelt werden.

 

Fazit

 

Vor diesem Hintergrund lässt sich die eingangs gestellte Frage dahin gehend beantworten, dass im Bezirk und im Grätzel die verschiedensten Interessen und Bedürfnisse auf einander treffen. Plattformen und Bemühungen, die Menschen zum selbstbestimmten und gemeinsamen Tätigwerden zu aktivieren, sind durchaus vorhanden – sei es nun das kulturelle Laboratorium im Centro Once, sei es der Nachbarschaftsgarten in Macondo oder auch die spielerische Erweiterung der Handlungsspielräume für Kinder und Jugendliche bei Balu & Du. Ob diese Angebote von den BewohnerInnen auch tatsächlich aufgegriffen werden, wird durch soziale Faktoren wie Zeit- und Ressourcenmangel erschwert. Dennoch tragen solche und andere Aktivitäten dazu bei, den Bezirk und das Grätzel zu einem lebendigeren und bunteren Ort zu machen. Zu wünschen wäre eine breitere Basis für eine derartige Belebung des öffentlichen Raumes durch eine Vervielfachung der Initiativen, die eine aktive Beteiligung der Menschen an der Entwicklung ihres Grätzels fördern. Doch helfen letztlich die schönsten Angebote wenig, wenn den Menschen zwischen der täglichen Arbeit und dem Konsum kaum mehr Zeit übrig bleibt, sich aktiv in den Stadtteil einzubringen. Vielleicht sollte sich die Gesellschaft hier prinzipiell Gedanken darüber machen, wie eine aktive Partizipation der Menschen im Grätzel erleichtert werden kann, etwa durch Arbeitszeitverkürzung (bei vollem Lohnausgleich), bedingungsloses Grundeinkommen oder auch ganz neue Modelle.

 

Zurück nach Macondo… Trotz all der Probleme fühlen sich vor allem die alteingesessenen BewohnerInnen als MacondianerInnen. Seinen Ausdruck findet dies in einem Graffiti in der Nähe der Siedlung: „Es mi Barrio“ – das ist mein Grätzel, hier wohne ich, steht dort geschrieben. Die Flüchtlinge aus Chile haben ein Bewusstsein mitgebracht, ihre Stimme zu erheben, mit dem Unterschied, dass sie damit ihr Leben – anders als unter Pinochet – hier nicht aufs Spiel setzen: „Für uns war es die einzige Form der Résistance, dass man soviel Mumm und Eier gehabt hat, auf die Strasse zu gehen, was verboten war – Ausgangssperre, Ausnahmezustand – und die sind trotzdem mit Farbe und Pinsel auf die Strasse gegangen und haben geschrieben „Weg mit der Diktatur!“ und „Tod Pinochet!“. Die Diktatur in Chile hat einen Traum zerstört, der von Millionen Menschen geteilt wurde, die Salvador Allende zum Präsidenten gewählt hatten. Carlos Rojas weiss aus seiner eigenen Familiengeschichte zu erzählen: „Mein Vater hat eine relativ gute Position gehabt, in seiner Arbeit. Trotzdem ist er mit meiner Mama und mit 100.000en auf LKWs gefahren, da waren Lehrer, Gewerkschafter, Professoren, Ingenieure, Ärzte, Bauern, alles, (..) und da wurden ohne Maschinen, jeder mit einer Schaufel, monatelang, ohne Entgelt (..) Strassen und ganze Autobahnen gebaut, von Menschenhand, von Leuten, die an etwas geglaubt haben, an eine bessere Zukunft. Da war weder eine Partei dahinter, noch gab es eine finanzielle Entschädigung. (..) Aus reiner Überzeugung und so wurde dieses Land aufwärts getrieben.“

 

unveröffentlicht (2012)

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