Mit Frauensolidarität und rosa Pussyhats für die sexismusfreie Gesellschaft

 

Über den #SchweizerAufschrei

 

Eine Vergewaltigung, die nicht so genannt werden darf

 

Nach einer politischen Feier zu Weihnachten 2014 erwacht Jolanda Spiess-Hegglin am darauf folgenden Morgen mit Schmerzen im Unterleib. Sie hat keine Erinnerung mehr daran, was an diesem Abend passiert ist. Es sollte sich herausstellen, dass ihr K.O.-Tropfen verabreicht wurden. DNA-Spuren von zwei Männern werden sicher gestellt, einer von ihnen ist Politiker bei der rechtsextremen Schweizer Volkspartei (SVP). Alles deutet darauf hin, dass Jolanda Spiess-Hegglin vergewaltigt wurde. Doch die Untersuchungen verlaufen schließlich derart schlampig, dass die Politikerin und Mutter von drei kleinen Kindern das Unrecht, welches ihr angetan wurde, nicht beweisen kann. Deshalb darf Jolanda Spiess-Hegglin ihre leidvollen Erfahrungen nicht beim Namen nennen und nicht in der Öffentlichkeit darüber sprechen, denn der SVP-Mann würde sie umgehend anzeigen. Sie darf den Vorfall nicht Vergewaltigung nennen, sondern eben nur „Vorfall“.

 

Für Jolanda Spiess-Hegglin hat es in dieser Situation eine heilsame Wirkung, dass sie sich mit anderen Frauen austauschen kann, wie sie im Gespräch mit dem Redakteur feststellt. Sie wendet sich dem Feminismus zu, denn dieser gibt ihr Kraft und Mut, als sie nach dem „Vorfall“ ihre innere Sicherheit verliert und sich allein fühlt. Nach der Gewalterfahrung macht sie sich selbst Vorwürfe und fragt sich, ob sie vielleicht an diesem Abend weniger Alkohol trinken hätte sollen (obwohl sie gemäss einem neuen Rechtsmedizinischen Gutachten nach der Feier sogar noch hätte Autofahren dürfen). Durch die Auseinandersetzung mit feministischen Ideen ist Jolanda Spiess-Hegglin aber bewusst geworden, dass es keine Entschuldigung für sexualisierte Gewalt geben kann und dass Frauen niemals „selbst schuld“ sind, wenn sie vergewaltigt werden: „Heute weiss ich, dass selbst wenn ich nackt durch die Strassen laufen würde, mich niemand anzufassen hat. Dieses Bewusstsein kam mit dem Feminismus. Aber eigentlich muss man doch sagen, dass dies jedem Mitglied unserer Gesellschaft klar sein sollte“, so Jolanda Spiess-Hegglin im Interview.

 

Nachdem sie sich zunächst durch das Lesen von Büchern über Feminismus informiert, stellt sie fest, dass eine Debatte unter Frauen, denen ähnliches Leid zugefügt wurde, heilsam ist. Indem sie Kontakt zu anderen Feministinnen pflegt, kehrt Jolanda Spiess-Hegglins Kraft zurück und sie kann ihre eigene Geschichte besser verarbeiten, indem sie sich feministischen Ideen widmet. Heute legt sie auch als Politikerin der Piratenpartei ihren Fokus auf Feminismus und unterstützt andere Opfer von sexualisierter Gewalt: „Ich mache nun feministische Netzpolitik. Gebe aber meine Kraft auch gern im realen Leben weiter. Vor ein paar Tagen habe ich beispielsweise eine Frau am Tag des Gerichtsprozesses ihres Vergewaltigers begleitet. Das sind Momente, in welchen alles andere unwichtig wird.“

 

#SchweizerAufschrei

 

Nun geht ein Aufschrei im Land um. Es ist der #SchweizerAufschrei. Frauen, Feministinnen und auch einige Männer erheben lautstark ihre Stimme, sprechen über Sexismus und teilen ihre alltäglichen Erfahrungen mit anderen. Unter dem Hashtag #SchweizerAufschrei erzählen seit vergangenem Herbst – ähnlich wie beim #Aufschrei in Deutschland – zahlreiche Menschen im Internet ihre Geschichten. Dem #SchweizerAufschrei ging u.a. die Wahl des neuen US-Präsidenten voran, der berüchtigt dafür ist, Frauen zu belästigen und gegen ihren Willen zwischen ihre Beine zu fassen und auch noch damit zu prahlen. Außerdem erregte eine Aussage in der Schweiz viel Aufsehen, bei der die SVP-Politikerin und ehemalige Polizistin Andrea Geissbühler in gewissen Fällen von Vergewaltigung den Frauen eine Mitverantwortung zuschiebt. Diese Fälle sind symptomatisch für Rape Culture, also ein gesellschaftlicher Umgang mit sexualisierter Gewalt, bei dem den Frauen die Schuld für die erlittene Gewalt zugeschrieben wird, während die Täter entlastet werden und somit ein Weiterwirken der Gewalt begünstigt wird.

 

Die Journalistin Nadja Brenneisen machte mit einem Artikel im Vice-Magazin das Victim Blaming durch die SVP-Politikerin einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Daraufhin beginnen sich Frauen aus verschiedenen Bereichen – feministische Aktivistinnen, Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen, Politikerinnen – über Plattformen im Internet wie Facebook zu vernetzen und ihrem Unmut eine Stimme zu verleihen. Der Hashtag #SchweizerAufschrei wird geboren. Es beteiligen sich viele Frauen und auch einige Männer aller Generationen an der Aktion. Und der Aufschrei artikuliert sich mit rasender Geschwindigkeit, denn innerhalb „eines Tages hat er sich wie ein Lauffeuer und mit der ersten medialen Präsenz noch weiter verbreitet“, stellt Nadja Brenneisen im Interview mit dem Redakteur fest. Diverse Medien berichten und das Thema wird öffentlich im Fernsehen diskutiert. Für Nadja Brenneisen war die starke mediale Resonanz überraschend. In einigen Medien werden praktische Ratschläge geboten, wie sich Frauen aktiv gegen Sexismus wehren können und wie Männer im Alltag vermeiden können, wenn auch nicht immer mit Absicht, sich sexistisch zu verhalten, so die Autorin und Wissenschaftlerin Lovis Cassaris zum Autor dieses Artikels. Nadja Brenneisen ortet gewisse Lernprozesse durch den #SchweizerAufschrei, denn: „Vielleicht hat der ein oder andere überlegt, dass die Kollegin im Büro nicht mehr so gerne „Mäuschen“ genannt werden möchte, oder dass man sich den Kommentar über den Hintern einer Frau auch sparen kann. Inwiefern die Aktion konkret „gewirkt“ hat, lässt sich kaum abschätzen, aber sie wäre nicht möglich gewesen, wenn die grosse Mehrheit alltäglichen Sexismus noch als unveränderbar gegeben wahrgenommen hätte.“ Andererseits bemerkt Jolanda Spiess-Hegglin auch, dass konservative und rechtsextreme Kreise rund um die SVP nur Spott für den #SchweizerAufschrei übrig hatten. „Es ist schon verrückt. Wenn in Köln Menschen mit ausländischem Pass womöglich Frauen belästigen, werden unsere rechten Politiker zu Feministen. Wenns darum geht, die Missstände der Gesellschaft in der Schweiz zu thematisieren, wird hämisch gelacht. Aber ja, ich musste ja auch einiges einstecken. Die SVP machte im Wahlkampf mehrmals Witze über K.O.-Tropfen. Als ob an dieser heimtückischen Droge irgendwas lustig wäre. Ich habe im letzten Jahr ungefähr 70-80 Wutbürger angezeigt, welche mich auf Social Media beschimpften oder verleumdeten. Es waren zu 95 Prozent Anhänger der SVP. Und es waren zu 98% Männer. Das sagt einfach zu viel aus.“

 

Das Schweigen durchbrechen

 

Der #SchweizerAufschrei ermutigt die Betroffenen zum Sprechen und knüpft solidarische Netze zwischen den Frauen. So kommentiert Lovis Cassaris: „Es haben sich betroffene Frauen gemeldet und ihr Schweigen gebrochen. Und sie haben Unterstützung von anderen Frauen erfahren.“ Dies wird auch von Jolanda Spiess-Hegglin bestätigt, die ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt beim #SchweizerAufschrei offen gelegt hat: Sie habe die längste Zeit nie an einen Aufstand gedacht – „(bis) ich auf sehr eindrückliche Weise übelsten Sexismus, Vorverurteilung und die Missstände unserer Gesellschaft im Allgemeinen erfahren musste. Plötzlich war Schweigen für mich keine Option mehr. Und dann kam diese neue feministische Welle, welcher ich mich gern angeschlossen habe und dadurch auch die essentielle Solidarität erfahren habe.“ Und Jolanda Spiess-Hegglin weiter: „#SchweizerAufschrei kam für mich in einer Zeit, in welcher ich extrem froh war, mich mit vielen anderen Menschen endlich über all die Unglaublichkeiten austauschen zu können. In den letzten zwei Jahren habe ich so viel erlebt, ich setzte einen Tweet nach dem anderen ab.“

 

Als wichtiges Anliegen des #SchweizerAufschreis identifiziert Nadja Brenneisen die Sensibilisierung für alltäglichen Sexismus. „Es ging darum aufzuzeigen, dass Sexismus weit verbreitet und omnipräsent ist. Es ging darum zu zeigen, dass man sich diesen nicht weiter gefallen lässt, ja, dass man stark und vernetzt ist.“ Für Lovis Cassaris steht der #SchweizerAufschrei schließlich für den Wunsch nach einer sexismusfreien Gesellschaft, in der Männer keine Macht mehr über Frauen ausüben und das Verhältnis zwischen den Geschlechtern auf Respekt und der Begegnung auf gleicher Augenhöhe beruht. Die queer*feministische Autorin bewegt sich seit vielen Jahren in der LGBTIQ-Community und weist auch darauf hin, dass als Teil des #SchweizerAufschreis auch eine Kritik am Sexismus gegenüber Angehörigen der LGBTIQ-Gruppen artikuliert wird, die von der Lesbenorganisation Schweiz (LOS) formuliert wird. Lovis Cassaris findet es daher auch wichtig, „dass wir mehr sensibilisiert werden in Bezug auf Themen wie Mehrfachdiskriminierung/Intersektionalität.“

 

Vorwärts mit pinken Katzenöhrchen

 

Lovis Cassaris sieht die Wirkung des #SchweizerAufschreis darin, dass Frauen sich noch besser vernetzen. „Das Teilen der eigenen Erfahrungen mit anderen macht Sexismus sichtbarer und bewirkt, dass man sich mit dem Problem nicht alleine fühlt.“ Außerdem wird das Bewusstsein in breiteren Kreisen der Gesellschaft zunehmend geschärft, denn die öffentlichen Debatten werden auch im privaten Umfeld der Menschen thematisiert, selbst von Personen, die sich bis dahin kaum oder gar nicht mit der Problematik befasst haben. „Auch nach Monaten reden wir noch über den Aufschrei. Das ist ein gutes Zeichen“, so Lovis Cassaris.

 

Im Hinblick auf die Zukunft meint Lovis Cassaris: „Jetzt dürfen wir einfach nicht nachgeben, auch wenn Feminismus manchmal anstrengend wirkt. Wie Sarah Bosetti neulich gesagt hat: Feminismus ist wie das Kondom, das man erst noch kaufen muss, obwohl man schon nackt zusammen im Bett liegt. Ohne wär‘ es einfacher, aber langfristig nur für den Mann.“ Kontinuität ist das Zauberwort. So meint Nadja Brenneisen, dass weitere Aktionen erforderlich sind – „so müssen Frauen und Männer weiter dafür kämpfen, als Menschen nicht mehr ungleich behandelt zu werden, lieben zu können, wen sie wollen, sein zu dürfen, wer sie sind. In der Schweiz tragen beispielsweise gerade viele Frauen die pinken Katzenöhrchen (#makeswitzerlandpink). Ich persönlich sehe das ziemlich einfach: Aufhören können wir alle erst dann, wenn wir am Ziel sind“, so Nadja Brenneisen. Auch Jolanda Spiess-Hegglin meint, dass es nun von Bedeutung ist, sich zu organisieren und Strukturen aufzubauen – und diese sind gerade im Entstehen begriffen. Das gilt sowohl für die Plattformen im Netz als auch für die nicht-virtuelle Welt. Die nächste Gelegenheit sich zu vernetzen und die Stimme gegen Sexismus zu erheben, wird es am 18.März geben, wenn in Zürich der Women‘s March stattfindet. Jolanda Spiess-Hegglin sieht dem Women‘s March bereits hoffnungsfroh entgegen: „Pinke Wolle für die Pussyhats sind in vielen Warenhäusern ausverkauft.“

 

unveröffentlicht, 16.03.2017

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