Um in den Straßen tanzen zu können
Weil wir Angst davor haben müssen, uns öffentlich zu küssen
Wir haben Angst, uns zu küssen
Für meine Schwester, deine Schwestern, unsere Schwestern
Dafür, dass sich in den morschen Köpfen endlich etwas bewegt
Für die Demütigungen, die uns angetan werden
Wegen der allgegenwärtigen Armut
Weil der Reichtum nicht umverteilt wird
Für den Wunsch nach einem normalen Leben
Wäre das auch für uns möglich
Für die im Abfall nach etwas Verwertbarem suchenden Kinder mit all ihren Träumen
Und wegen dieser gewissenslosen Wirtschaft, die so korrupt ist
Und wegen der verschmutzten Luft
Wegen der verdorrten Bäume auf der Valiasr-Straße
Weil der kleine Gepard vom Aussterben bedroht ist
Für all die unerwünschten Hunde, die doch unschuldig sind
Wegen des endlosen, schier niemals endenwollenden Tränenvergießens
Wegen der Vorstellung, dass sich die Szenen genauso wiederholen könnten
Für ein Lächeln im Gesicht
Für all diese Studenten
Für die Zukunft, für die Zukunft
Und für dieses aufgezwungene Paradies
Für die Intellektuellen, die im Gefängnis sind
Für die Flüchtlingskinder, die aus Afghanistan fliehen
Wegen all dem
Und für all das, was noch nicht gesagt ist
Für jede einzelne ihrer hohlen Phrasen
Wegen der einstürzenden Bruchbuden
Und für die, die friedfertig sind
Für einen Morgen nach diesen langen, langen Nächten
Für die aufgehende Sonne
Wegen der Schlaftabletten und der Schlaflosigkeit
Für die Frauen, das Leben und die Freiheit
Für das Mädchen, welches sich wünscht, ein Junge zu sein
Für die Frauen, das Leben, die Freiheit
Die Freiheit
Übersetzung des iranischen Freiheitsliedes Baraye („Um“, „für“ oder „wegen“) von Shervin Hajipour ins Deutsche.
Gelesen von der Publizistin, Politikwissenschafterin und Ärztin Gilda Sahebi, im Gespräch mit Renata Schmidtkunz in der Radiosendung „Im Gespräch: Gilda Sahebi über Frauen im Iran. ‚Was im Iran geschieht, ist feministische Weltgeschichte'“ am 9.3.2023 auf Ö1.
Zum Kontext dieses Liedes ein Dialog aus der genannten Sendung:
Renata Schmidtkunz: Das eine ist „Baraye“ von Shervin Hajipour. Das habe ich schon erwähnt. Das habe ich mitgebracht, auf deutsch.
Gilda Sahebi: Ach schön.
RS: Und ich wollte Sie mal fragen, ob Sie das vielleicht lesen wollen?
GS: Ja, gerne.
RS: Das ist die deutsche Übersetzung, die vielleicht nicht ganz dem Iranischen entspricht.
Es geht in diesem Lied Baraye, das so viel heisst wie „Um“, „Für“ oder „Wegen“ darum, warum eigentlich die Leute in Iran protestieren.
GS: Also es war so, dass die Frage gestellt wurde: warum? Und dann haben ganz viele Leute ganz viele Tweets abgeschickt. Und aus diesen Tweets wurde dieses Lied zusammengesetzt. Genau.
Gilda Sahebi ist auf social media zu finden (u.a. auf Bluesky) und hat auch ein Buch geschrieben:
„‚Unser Schwert ist Liebe‘. Die feministische Revolte im Iran“ (Fischer Verlag)
Das Lied Baraye: