Sergio Patricio ist Künstler, Student und Aktivist bei Chile desperto in Wien. Im Interview berichtet er über Hintergründe der aktuellen Protestbewegung in Chile.
Die gegenwärtige Protestbewegung in Chile hat ihren Ausgang genommen, als vor allem Schüler*innen gegen die Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr protestierten. Doch schnell hat die Bewegung auf den Rest der Gesellschaft übergegriffen und die Forderungen haben sich dabei vervielfältigt. Inzwischen richtet sich die Protestbewegung gegen das neoliberal-kapitalistische Regime als Ganzes und eine zentrale Forderung ist der Rücktritt der Regierung des rechtsextremen Präsidenten Sebastian Piñera. Die Kritik wendet sich auch gegen die Vorgängerregierungen, die in den fast 30 Jahren seit dem Ende der Diktatur von Augusto Pinochet wenig unternommen haben, um die sozioökonomischen und politischen Kontinuitäten der Diktatur wie etwa die massive soziale Ungleichheit zu beenden, die auch in Zeiten der bürgerlichen Demokratie fortwirkten. „ Obwohl die Diktatur vor 30 Jahren beendet wurde, stellen wir heute im wesentlichen noch die gleichen Fragen,“ sagt Sergio Patricio dazu. Bei Umfragen sind die Zustimmungswerte der Regierung inzwischen auf weniger als 10% gesunken.
„Es demonstrieren noch immer viele Menschen. Die Leute sind wütend und es hat sich über die vergangenen 30 Jahre eine Menge Wut und Frustration angestaut. Deshalb haben sie viel Kraft, um die Demonstrationen fortzusetzen,“ so Sergio Patricio. Was als Protest gegen Fahrpreiserhöhungen begonnen hatte, entwickelte sich bald zu einem Ausbruch, bei dem es auch zu Randale und Sachbeschädigung kam. Doch die chilenische Regierung und Staatskräfte reagierten darauf mit unverhältnismäßiger Gewalt und es kam zu unzähligen Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei und während des vorübergehend verhängten Ausnahmezustandes auch durch das Militär. Beinahe 30 Menschen wurden durch Staatskräfte getötet, tausende eingesperrt und viele misshandelt, darunter auch Kinder. Neben sexualisierter Gewalt gegen Frauen und LGBTIQ-Personen durch Staatskräfte wurden auch Menschen wie in Diktaturzeiten verschleppt ohne dass ihr Aufenthaltsort bekannt ist. Und um die 200 Menschen haben ein oder beide Augen verloren, nachdem sie durch Gummigeschoße der Polizei verletzt wurden. Dass in Chile die Menschenrechte verletzt werden ist nichts Neues, so Sergio Patricio. „Es ist so wie während der Diktatur. Es wiederholt sich, was schon in der Vergangenheit geschehen ist. Nur während den Opfern früher ihre Erfahrungen nicht geglaubt wurden, ist der Unterschied heute, dass die Menschen die Gewalt mit Kameras dokumentieren können. So erfahren viele über social media sofort, dass die chilenische Polizei und Armee die Menschenrechte missachtet.“ Die Zahlen von Chile desperto beruhen auf den Quellen von Amnesty International und der UN. Die offiziellen Verlautbarungen der Regierung, dass alles korrekt abliefe, wurden also bald durch die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen Lügen gestraft.
Chilen*innen im Ausland, die sich über das Internet informierten und sich wegen der Gewalteskalation Sorgen machten, haben sich in mittlerweile 30 Ländern zusammengefunden und begonnen, sich zu vernetzen, um auf die Situation in Chile aufmerksam zu machen. Eine der Gruppen von Chile desperto ist auch in Wien tätig. Im Vergleich zu anderen Städten wie Barcelona und London ist die Gruppe in Wien allerdings von überschaubarer Größe. Dennoch konnten auch hier Aktionen wie eine Demonstration und Trauerkundgebung organisiert werden, an denen mehrere hundert Menschen teilgenommen haben. Sergio Patricio sagt, dass die Menschen, die sich bei einer der lokalen Gruppen von Chile desperto in Städten wie Barcelona, London, Sydney, Berlin und New York zusammengefunden haben, über die Lage in Chile erschrocken sind: „Wie ist es möglich, dass sich die Regierung nicht für die begangenen Menschenrechtsverletzungen entschuldigt? Das ist keine Gerechtigkeit. Menschen werden auf den Strassen getötet und eingesperrt. Auf einem Video ist zu sehen, wie die chilenische Polizei in eine Schule eindringt und auf Schülerinnen schießt.“
In den cabildos genannten Versammlungen trifft sich die Bevölkerung und es wird über verschiedene gesellschaftliche Themen wie soziale Sicherheit debattiert. Schließlich werden Vorschläge zu Papier gebracht, von denen sich die Menschen eine Lösung sozialer Probleme erwarten, und den parlamentarischen Gremien wie dem Kongress vorgelegt. Auch die während der Pinochet-Diktatur beschlossene und immer noch gültige Verfassung ist Gegenstand von Diskussionen. Stimmen aus der Protestbewegung rufen laut nach einer neuen Verfassung, die die geänderten Realitäten der chilenischen Gesellschaft berücksichtigt. „ Ein anderes Thema, das im Rahmen der cabildos aufgegriffen wird, sind die Rechte der indigenen Mapuche und ihre Territorien. Dazu kommt der Umgang mit den natürlichen Ressourcen, besonders Wasser. Die Wasserversorgung wurde privatisiert und vor allem spanische Firmen und transnationale Konzerne haben darauf Zugriff. Diese arbeiten rein profit-orientiert und bringen den Großteil des Wassers außer Landes. Auch der Entwurf einer neuen Verfassung wird in den cabildos thematisiert. Ein weiterer Punkt ist die soziale Sicherheit. Denn in Chile sind die meisten Bereiche privatisiert, was auch als neoliberales Erbe auf die Diktatur zurückgeht. Soziale Versorgung erhält nur, wer es sich leisten kann und lebenswichtige Bereiche wie das Bildungs- und Gesundheitswesen sind extrem teuer. So müssen Familien etwa für den Unterricht an einer der privaten Schulen monatlich ca. 400 Dollar aufbringen.
„Chilen*innen innerhalb und außerhalb des Landes wissen bescheid über die Menschenrechtsverletzungen. Medien berichten darüber und internationale Organisationen wie die UN und Amnesty International haben es dokumentiert. Sie wissen, dass es passiert und wir warten auf Gerechtigkeit.“ Juristische Ermittlungen gegen einzelne Polizisten und sogar gegen Präsident Piñera sind im Laufen. Vertreter*innen von Chile desperto erwarten sich internationale und europäische Unterstützung und hoffen darauf, dass politischer Druck auf die chilenische Regierung ausgeübt wird, damit die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden, so Sergio Patricio. Aus diesem Grund versucht Chile desperto in mehr als 30 Ländern die Öffentlichkeit für die Situation in Chile zu sensibilisieren. Chile ist heute eine bürgerliche Demokratie, umso schwerwiegender die Tatsache, dass systematisch Menschenrechte verletzt werden. Sergio Patricio stellt fest, dass die gegenwärtigen Proteste undenkbar wären ohne die vorangegangenen Proteste der Studierenden- und der feministischen Bewegung in Chile. Diese Bewegungen haben soziale Ideen gestärkt und ein Bewusstsein geschaffen. Sergio Patricio ist selbst noch während der Diktatur aufgewachsen und hat den politischen Übergang zur bürgerlichen Demokratie miterlebt. Er erinnert sich an ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit in seiner Generation. Die jüngeren Bewegungen haben nun das Selbstbewusstsein der Menschen gestärkt und für Themen wie soziale Gleichheit und Korruption sensibilisiert. Im Moment hat Sergio Patricio Hoffnung, dass die sozialen Bewegungen in Chile Veränderungen erreichen können. Dennoch ist die Situation schwierig, da Nachbarländer in der Krise sind. So gab es in Bolivien einen Putsch gegen Evo Morales. „Wir wünschen uns, dass sich alles in die richtige Richtung entwickelt. Aber wir haben auch Angst, dass es sich verschärfen kann. Ich hoffe, wir enden nicht als Geflüchtete,“ sagt Sergio Patricio. Für ihn ist es eine erschreckende Erfahrung, nach der Diktatur ein zweites Mal in seinem Leben schwere Menschenrechtsverletzungen mitansehen zu müssen: „Für uns ist es wirklich wie ein zweites Trauma.“ Von der österreichischen Zivilgesellschaft erhofft sich Sergio Patricio Unterstützung und eine Positionierung für die Verteidigung von Menschenrechten in Chile.
erschienen in: akin 25 (4.Dezember 2019) und Unsere Zeitung