Özlem K. ist Lehrerin und liebt es, Menschen zu begegnen. Ahmad M. ist Journalist und hat einen langen und beschwerlichen Weg aus dem Irak hinter sich. Gemeinsam ist den beiden, dass sie leidenschaftlich gerne in ihrer Freizeit malen. Vielleicht sind sie sich sogar schon über den Weg gelaufen – hier am Hauptbahnhof in Wien. Eine Helferin und ein Mensch auf der Flucht erzählen.
Flucht und Bewegungsfreiheit
Ahmad M. spricht unmissverständlich aus, was er braucht, um sich wohl zu fühlen: Sicherheit und Frieden. Zusammen mit seiner Frau – er ist Schiite aus dem Süden, sie ist Sunnitin aus dem Westen – ist Ahmad M. vor ca. einem Monat aus dem Irak vor Gewalt und Verfolgung geflohen. Ein Teil seiner Familie hält sich noch in der Türkei auf, wo er sich aus Angst vor Repressalien auch nicht sicher fühlt. Er berichtet davon, dass seine Frau und er von der ungarischen Polizei geschlagen wurden. Vor mehreren Tagen hat er vom Fall eines Irakers erfahren, der in einem österreichischen Asylzentrum von einem Security misshandelt wurde. Bei Ahmad M. und anderen hat dies Erinnerungen an die Gewalt in Ungarn wachgerufen.
Kritik übt Ahmad M. auch daran, dass die lange Dauer der Asylverfahren in Österreich die meisten Menschen stark verunsichert und bedrückt, da sie nicht wissen, ob sie bleiben dürfen oder wieder das Land verlassen müssen. Bei der Einvernahme durch die Behörden vermisst Ahmad M. das Vertrauen in die Menschen, die Wahrheit zu sagen. Denn aufgrund der Tatsache, dass viele Menschen aus dem gleichen Land oder gar der gleichen Stadt flüchten und oft ähnliche schmerzhafte Erfahrungen machen, scheinen die Behörden den Flüchtlingen keinen Glauben zu schenken. Dringlich ist auch die schnelle Bereitstellung von Unterkünften, sagt Ahmad M., da es den Menschen nicht zugemutet werden darf, die bevorstehende kalte Jahreszeit in Zelten oder gar obdachlos zu überwintern. Er möchte am liebsten nach Skandinavien weiterreisen, um wieder mit dem Rest seiner Familie zusammenzukommen. Daher wünscht er sich von der österreichischen Regierung die Möglichkeit zur schnellen Weiterreise für alle Flüchtlinge, sofern sie dies wünschen. Als wenig vertrauensbildend empfindet Ahmad M. auch die Entscheidung der deutschen Regierung, nun Fingerabdrücke an der Grenze abzunehmen. Er möchte die freie Wahl haben zu entscheiden, wohin er geht und sich nicht durch staatliche Registrierung in seiner Freiheit einschränken lassen.
Begegnungen zwischen Menschen
Wovon Özlem K. besonders beeindruckt ist, das sind die Begegnungen mit anderen Menschen, ungeachtet von Herkunft, Sprache und anderen Unterschieden. Sie bewundert die vielen Menschen, die gemeinsam mit ihr den Menschen auf der Flucht helfen. Die Beziehungen zu den Menschen – Helfer_innen wie auch Flüchtlinge – sind für sie sehr wertvoll. Obwohl sie gerne auch Menschen kennenlernen möchte, die am Hauptbahnhof ankommen, ist Özlem K. meistens zu beschäftigt, um persönliche Beziehungen zu pflegen. Auch Ahmad M. wünscht sich, mit den Menschen am Hauptbahnhof ins Gespräch zu kommen, er beklagt jedoch, dass Sprachbarrieren dies erschweren. Da sie ihrem Beruf als Lehrerin nachgeht und gerade ihren Master in Religionspädagogik macht, kommt Özlem K. unter der Woche jeden Tag am Nachmittag zum Hauptbahnhof und arbeitet dann bis in den Abend hinein beim Essensstand. Am Wochenende bleibt sie auch manchmal über Nacht. Es berührt sie tief, Menschen zu treffen, die auf der Suche nach ihrer Familie sind oder denen sie helfen kann, ihre nassen Schuhe gegen trockene Kleidungsstücke zu wechseln. Manchmal ist Özlem K. den Tränen nahe, wenn sie den Fluchtgeschichten betroffen zuhört – gleichzeitig versucht sie stark zu bleiben, um den Menschen Mut zuzusprechen. Zum Ausweinen geht sie dann nach Hause.
Gemeinsam anpacken
Özlem K. ist eine von vielen, die anpackt, wo es erforderlich ist und die gerne den Menschen auf der Flucht hilft. Beim Essensstand am Hauptbahnhof übernimmt sie alle Aufgaben, die gerade anfallen: Gemüse schneiden, notwendige Sachen organisieren, saubermachen. Anfangs hat sie oft übersetzt, vor allem für Flüchtlinge, die sich auch in der Türkei aufgehalten haben. Doch sogar wenn sie sich gerade nicht am Hauptbahnhof befindet, schreitet sie zur Tat und kocht mit ihren Kolleg_innen in der Schule oder organisiert Decken und Matten für die Flüchtlinge. Am Hauptbahnhof funktioniert vieles wie geschmiert – es wird gar nicht lange diskutiert sondern einfach in Selbstorganisation getan, was notwendig ist.
Genau das unterscheidet auch Menschen wie Özlem K. von den Regierenden in Österreich. Während die Regierung notwendige Maßnahmen für die Öffnung der Grenzen und das Willkommenheißen der Flüchtlinge unterlässt, beweisen die Helfer_innen und NGOs, dass sie sich nicht vom Leid abwenden und ihre Arme öffnen, um tatkräftig den Menschen auf der Flucht zur Seite zu stehen. Ahmad M. sagt, dass er sich hier willkommen fühlt und die Freundlichkeit der Menschen spürt – gleichzeitig weiß er nicht genau, ob die Regierung auch so empfindet wie die vielen Helfer_innen.
Zu Hause ankommen
Die Menschen, die am Hauptbahnhof ankommen, machen auf Özlem K. ein wenig den Eindruck, verloren zu sein. Zwar werden sie hier gut versorgt, aber dennoch haben sie nach den entbehrungsreichen und leidvollen Erfahrungen auf ihrer Flucht noch keinen Ort gefunden, den sie ihr Zuhause nennen können. Daher ist es auch wichtig, den Menschen durch freundliche Gesten ein Gefühl des Wohlbefindens und der Geborgenheit zu schenken – und sei es durch ein Lächeln, so Özlem K.
Der Moment, der sie bisher am meisten bewegt hat, ist für Özlem K. jener Abend, als mehrere Flüchtlinge sich auf den Platz vor dem Hauptbahnhof begeben und ausgelassen mit einander tanzen und singen. Ein Moment der Freude und des Gefühls, willkommen zu sein. Wenn sie sich etwas wünschen darf, dann möchte Özlem K. gerne erleben, dass die Menschen auf der Flucht ein Zuhause finden. Einen Ort, den sie sich selbst aussuchen können und wo sie endlich zur Ruhe kommen und sich wohlfühlen.
veröffentlicht auf no-racism.net
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