Luna Al-Mousli erzählt von ihren Kindheitserlebnissen in Damaskus
„Im heißen Sommer gab es immer Wassermelonen als Nachspeise. Sie wurden in den Pool geworfen, weil im Kühlschrank kein Platz war. Wir durften sie beobachten, wie sie weder untergingen noch wirklich oben schwammen. Wir spielten mit diesen Melonen, warfen sie hin und her, versuchten auf den Melonen zu stehen, bis sie auftauchten und uns ins Wasser warfen.“ (*)
Freiheit ist eine Erfahrung, die Luna in Syrien nur in den eigenen vier Wänden und im Garten ihres Großvaters macht. Im familiären Umfeld erlebt sie als Kind an diesen Orten eine schöne Zeit. Sie fühlt sich frei und hat Spass. Besonders im Garten ihres Großvaters hat Luna als Kind viel Freiheit genossen. Zusammen mit ihren Geschwistern tobt sie durch den Garten und probiert vieles aus. Für sie als kleines Kind sei es wie das Paradies gewesen, sagt Luna. Freudig erinnert sie sich an die vielen bunten Blumen, die Bäume, das Obst und Gemüse. Luna denkt gerne daran zurück, wie sie die Gurken, Tomaten und Weintrauben beim Wachsen beobachtet. Gemeinsam mit ihrem Opa pflückt und trocknet sie das Gemüse. Im Garten verbringt sie auch viel Zeit mit vergnüglichen, sportlichen Aktivitäten wie Radfahren, Basketball spielen und Schwimmen. Auch mit Tieren zusammen genießt Luna den Tag. Ganz gleich zu welcher Jahreszeit – im Garten gibt es immer etwas zu tun.
„Unser Salon veränderte sich, er wurde kleiner und größer. Zum Beispiel wenn wir Minze trockneten oder Lavendel. Oma legte eine weiße Decke auf den Boden und verteilte die Blätter. Der Geruch verbreitete sich in der ganzen Wohnung. Es ist erfrischend.“
Auch die Wohnung in einem Stadtteil der wohlhabenden Mittelschicht im neuen Teil von Damaskus ist ein Abenteuerspielplatz für Luna und ihre Geschwister. Die Kinder bemalen gerne die Wände. Es gibt viele Räume, die von den Kleinen genutzt werden, um Verstecken zu spielen. Auf die Frage, ob Luna als Kind alles gehabt habe, was sie braucht, antwortet sie, dass es ihr an nichts gefehlt habe. Womöglich haben ihre Eltern ihr nicht jeden Wunsch nach Schuhen oder Spielzeug erfüllt. Aber materielle Not hat Luna in ihrer Familie nicht gekannt.
„Die Wohnung war immer voll. Es gab keinen einzigen Tag, an dem ich alleine zuhause bin.“
Sie habe eine sehr schöne Kindheit gehabt hat, blickt Luna zurück. Sie fühlt sich in ihrer Familie gut aufgehoben und hat den Eindruck, dass gut für sie gesorgt und auf sie aufgepasst wird. Es ist immer viel los und es gibt viel zu tun. In ihrer Familie ist Luna immer mit jemandem zusammen und fühlt sich nie allein.
„Amme Samiha stand immer als Erste auf, wenn die Sonne aufging, um zu beten und dann mit der Nachbarin Rajaa spazieren zu gehen. Auf dem Rückweg pflückte sie Jasmin und legte ihn aufs Tablett neben ihre Kanne Grüntee. Das war ihr Morgenritual.“
Zu den Menschen, die Luna in ihrer Kindheit besonders nahe stehen, gehört ihr Opa Badr und eine Tante ihres Vaters, Samiha. Die Familie lebt zusammen mit der Großmutter väterlicherseits in einer Wohnung in der Innenstadt von Damaskus. Zur Schwester ihres Großvaters pflegt Luna eine enge Beziehung. Ihre Oma Fatma, die die Familien ihrer Kinder häufiger besucht und dann in der Wohnung übernachtet, wird von Luna als die geselligere von ihren Großeltern beschrieben. Ihr Großvater wiederum verbringt die meiste Zeit im Jahr in seinem Haus im Garten, das etwas außerhalb von Damaskus liegt. Daher hat es für Luna eine besondere Bedeutung, wenn die Familie immer am Wochenende ihren Opa im Garten besucht.
Luna denkt gerne an die ruhige und entspannte Stimmung bei ihrem Opa. Es gehört zu seinem Morgenritual, früh aufzustehen und die Pflanzen rechtzeitig vor dem Sonnenaufgang zu gießen. Danach macht er noch alles sauber und geht ein paar Runden schwimmen. Luna erinnert sich an die frische Luft, wenn sie schon in aller Frühe wach wird und aus dem Bett steigt. Ihr Großvater erzählt der kleinen Luna und ihren Geschwistern viele Geschichten und sie spielen gemeinsam Karten. Es bereitet ihr auch viel Vergnügen, wenn ihr Opa die Kinder zum Obst und Gemüse ernten in den Garten mitnimmt und ihnen zeigt, wie Marmelade zubereitet wird. Die gemeinsamen Spaziergänge mit ihrem Opa durch den Garten hat Luna immer sehr genossen.
„Politische Bildung war eines der wichtigsten Fächer in der Schule, genauso wie Mathematik und Arabisch. Wir lernten alles Mögliche über die Baath-Partei. Zur Prüfung kamen Assad-Zitate, die wir ergänzen und zeitlich einordnen mussten. Ich lernte alles auswendig. Ich verstand jedoch nichts.“
Außerhalb der Wohnung und des Gartens in Damaskus spürt Luna schnell, dass etwas anders ist als zu Hause und dass sie im öffentlichen Raum, in der Schule und auf der Strasse, nicht frei ist. Luna lernt, dass nicht alles, was sie als Kind zu Hause mitbekommt und was in der Familie gesprochen wird, nach außen getragen werden darf. Wirklich verstanden hat sie diese schützenden Verhaltensmuster erst später, nachdem sie Syrien mit ihrer Familie verlassen hat. Denn vorher stellt man einfach nicht so viele Fragen, erklärt sich das Luna. Sie kannte es als Kind auch gar nicht anders und die Möglichkeit zu vergleichen ergibt sich erst, nachdem sie in Österreich andere Verhältnisse kennen lernt.
Wien, kalte Stadt
Als Luna im jugendlichen Alter von 14 Jahren mit ihren Eltern und zwei Geschwistern nach Wien gekommen ist, hat sich schlagartig vieles verändert. Bisher hat sie immer andere Menschen um sich gehabt, denn zu Hause war immer jemand da. In Wien ist ihre Familie plötzlich allein. Im Haus, wo sie nun wohnen, sind sie umgeben von lauter unbekannten Menschen. In Damaskus hat die Familie ihre Nachbar*innen gut gekannt und man ist sich oft begegnet – etwa um sich zu einem festlichen Anlass zu beglückwünschen. „Das ist in Wien ganz anders,“ so Luna. Sie findet, Wien ist eine sehr kalte Stadt.
Lunas Mutter hat in Wien bald zu arbeiten begonnen. Dadurch hat sich auch der Tagesablauf für Luna verändert, denn nun musste sie lernen, mit einem Schlüssel umzugehen. In Damaskus war das schlicht nicht notwendig, da immer jemand zu Hause war, der die Tür öffnete. Wenn Luna in Wien die Haustür mit dem Schlüssel aufsperrt und die leere Wohnung betritt, dann fehlen ihr die vielfältigen Eindrücke und der Lärm, die sie in Damaskus gewohnt war.
Im neuen Zuhause ankommen
Sie ist hier in Wien inzwischen erwachsener geworden, denkt Luna. Sie geht gerne spazieren und trifft sich mit ihren Freund*innen, die für sie ihre Cousinen und Cousins in Damaskus ersetzen. In der ersten Zeit nach ihrer Ankunft in Wien macht Luna die Erfahrung, dass sie sich ihren Platz erst erkämpfen muss. In der Schule nimmt sie mit der Zeit mehr an gemeinsamen Aktivitäten in der Klasse teil und sie wächst als Jugendliche in einen Freundeskreis hinein. Sie erhebt ihre Stimme und spricht für sich selbst, auch oder gerade wenn sie einmal mit etwas nicht einverstanden ist.
Aber das war nicht von Anfang an so. Vorher fühlt sie sich nicht frei, denn Luna wird nicht sofort in der Gruppe akzeptiert, als sie nicht an allen Aktivitäten teilnimmt. Anfangs will sie sich mit der neuen Situation nicht abfinden, nachdem ihre Familie aus Damaskus nach Wien gekommen ist. Sie will eigentlich gar nicht in Wien sein. Luna hat als junges Mädchen noch nicht verstanden, warum die Familie aus Damaskus weggegangen ist, wo sie ihre sozialen Kontakte und vertraute Personen zurückgelassen hat. Wenn sie sich nur hartnäckig genug den geänderten Umständen widersetzt, gehen sie vielleicht wieder zurück nach Syrien, denkt Luna. Luna geht deshalb zunächst nicht gerne in die Schule, kommt oft zu spät und beteiligt sich nicht an Aktivitäten der Gruppe. Auch beim Einrichten der neuen Wohnung möchte sie nicht mithelfen. Schließlich muss ihre Mutter sie dazu drängen, am Projektunterricht teilzunehmen, damit sie andere Menschen kennen lernt. Und so kommt eines Tages der Augenblick, wo Luna plötzlich bemerkt, dass sie sich besser mit der neuen Wirklichkeit abfindet, da dies jetzt ihr neues Zuhause ist: „Und irgendwann checkt man dann, dass es gar kein Zurück mehr gibt. .. Und dann fängt man an, Kontakte zu knüpfen, an Aktivitäten teilzunehmen und neue Sachen auszuprobieren“.
Zwar sei die Unterdrückung in Syrien im öffentlichen Raum sehr spürbar gewesen, doch sie habe auch in Wien Unfreiheit erlebt, sagt Luna – sie sei nur viel versteckter als in Damaskus. Luna braucht eine Weile bis sie in die Klassengemeinschaft in ihrer neuen Schule hineinwächst. Geholfen hat ihr dabei eine Lehrerin. Ihr Klassenvorstand sorgt sich um sie und versucht, sie einzubinden. Diese Lehrerin lässt die Schüler*innen Portraits von verschiedenen Ländern gestalten, wobei Syrien nur eines von vielen darstellt. So verfährt die Lehrerin dann auch bei den Gruppenarbeiten über die verschiedenen Religionen, bei denen der Islam einen Platz neben den anderen erhält. Diese Lehrerin unterstützt Luna im Unterricht und sie „hat mir nie das Gefühl gegeben, dass ich weniger gut bin als die anderen, weil ich länger brauche – was sehr hilft“, so Luna. Einmal verteidigt diese Lehrerin sie gegenüber einer anderen Lehrerin, die sehr zornig wird und Luna zum Weinen bringt, nachdem sie so schnell im Dialekt spricht, dass Luna sie nicht verstehen kann. Diese Erfahrung hat Luna gezeigt, dass sie nicht allein ist und ihre Lehrerin hinter ihr steht. Wohlbefinden bedeutet für Luna, von den anderen als der Mensch akzeptiert zu werden, der sie ist. Dazu gehört, dass den anderen und ihr selbst der benötigte Raum zur Verfügung gestellt wird, um sich auszudrücken. Das gibt Sicherheit, sagt Luna. Denn gegenseitiges Respektieren ist wichtig, auch wenn man in verschiedener Hinsicht nicht die gleiche Meinung teilt.
We are Family
Heute pflegt Luna zu anderen Familienangehörigen vor allem Kontakt über Chats im Internet. Zu einem Anlass hat sich die Familie vor nicht allzu langer Zeit wieder getroffen, nämlich für die Verlobung ihrer Cousine, die heute in Kanada wohnt. Um dies mit einer angemessenen Feier zu begehen, hat sich die Familie in Beirut zusammengefunden, der einzige Ort, an dem wirklich alle sich versammeln können. Luna hat sich bei dieser familiären Feier gut amüsiert. Da niemand von den Anwesenden selbst vor Ort in Beirut gelebt hat, war die Organisation der Feierlichkeiten sehr aufwändig. Daher musste erst für alles Nötige gesorgt werden – angefangen vom gemeinsamen Essen bis zur Unterkunft im Apartment. Viele von den anwesenden Familienangehörigen hat sie schon seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen – während sie sich früher jede zweite Woche begegnet sind. Beim Treffen gab es viel zum Austauschen, weshalb sie in diesen Tagen nur wenig geschlafen hat.
In Wien fällt es Luna schon schwerer, einen bestimmten Platz auszumachen, den sie besonders bevorzugt wie die Wohnung und den Garten in Damaskus. Denn sie fühlt sich in der ganzen Stadt wohl – allein die Donauinsel besucht sie nur ungern. Luna lebt gerne in Wien und findet diese Stadt sehr abwechslungsreich – der Ort gibt ihr Sicherheit.
Nicht zu wissen, wie es jetzt ist, in Syrien zu leben, macht ihr Angst, schreibt Luna im Nachtrag ihres Buches. „Es ist nicht irgendein Land für mich. Es ist das Land, in dem noch ein Großteil meiner Familie wohnt. Es ist das Land, in dem ich meine Kindheit verbracht habe. Es ist das Land, in dem ich morgens Jasmin pflückte.“
(*) Zitate aus dem Buch „Eine Träne. Ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus“ von Luna Al-Mousli (2016)
unveröffentlicht, 12.02.2018
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