Röszke: Helfen oder zuschauen, wie Menschen sterben

 

Röszke, Anfang September 2015. Kinder zittern vor Kälte, Hunger breitet sich unter den Ankommenden aus, Menschen werden krank, weil sie schutzlos und ohne Dach über dem Kopf der Witterung ausgesetzt sind, viele Menschen schlafen auf dem harten Boden. Rund um das ungarische Erstaufnahmezentrum Röszke herrschen unerträgliche und menschenunwürdige Zustände.

 

Überwachung statt Hilfe

 

Während in Röszke das Elend vorherrscht und die Menschen leiden, nehmen sich die Behörden alle Zeit der Welt, um die ankommenden Flüchtlinge zu registrieren. Denn nur wer seine oder ihre Fingerabdrücke hergibt, darf sich weiter auf den Weg in Richtung Grenze machen. Manche Flüchtlinge verweigern dies aus gutem Grund. Denn nach wie vor ist die Dublin-Verordnung in Kraft, die nur in jenem Land die Behandlung des Asylantrages gewährleistet, in dem die Menschen zuerst europäischen Boden betreten haben. Die Abnahme der Fingerabdrücke in Ungarn bedeutet daher für viele eine akute Bedrohung und löst Ängste aus, hinter Stacheldraht und Zäunen festgehalten zu werden.

 

Mittlerweile haben die ungarischen Behörden die Menschen aus dem Lager in Röszke weggebracht. Das Lager selbst bleibt jedoch bestehen und es kommen neue Leute nach. Über die weitere Entwicklung in Röszke kann gegenwärtig nur spekuliert werden. Die Situation ändert sich nahezu stündlich. Die ungarische Regierung hält jedenfalls daran fest, die Menschen auf der Flucht zu registrieren. Christine Schörkhuber, Helferin bei SOS Röszke, berichtet, dass Passierscheine ausgestellt werden, mit denen die Menschen innerhalb Ungarns von einem Camp, etwa Röszke, ins nächste, wie etwa Györ, verlegt werden. Der ungarische Staat erwartet, dass die Menschen dort einen Asylantrag stellen. Diese offiziellen Lager scheinen zwar basisversorgt zu sein, aber die Lebensbedingungen sind nicht menschenwürdig, so Christine Schörkhuber.

 

Die ungarische Polizei treibt seit Tagen ein Katz und Maus-Spiel mit Flüchtlingen. Mal werden sie durchgelassen, mal werden sie aufgehalten. Auch gegenüber den Autokonvois mit den Hilfslieferungen bleibt die Polizei unberechenbar – es muss mitunter lange verhandelt werden, bevor ein Weiterfahren möglich ist. Doch nicht nur die ungarische Regierung, sondern auch die Regierung von Deutschland trägt nun zur unsicheren Situation bei, indem sie den Druck auf die Flüchtlinge erhöht und die Grenzen schließt.

 

Mut zur Hilfe

 

Österreich kann hier zur Entspannung beitragen, indem es genau den umgekehrten Weg geht und die Grenzen für Fluchtbewegungen umgehend öffnet. Anstatt wie aktuell die Grenzüberwachung zu verstärken, bietet es sich für eine Entspannung an, die Logistik und Koordination der Helfer_innen zu unterstützen.

 

Denn eines haben die Ereignisse der letzten Wochen deutlich gezeigt: eine humanitäre Katastrophe lässt sich abschwächen und letztlich wohl auch ganz verhindern, wenn Helfer_innen sich mit Menschenverstand zusammenschließen. Doch es bedarf auch der Unterstützung durch staatliche Stellen, die ja über bessere Infrastruktur und Ressourcen verfügen. Die Situation lässt sich auch in Österreich und Deutschland meistern, wenn der politische Rahmen die Hilfe der Menschen begünstigt. Die Politik soll Menschen beim Helfen unterstützen und nicht ihr bisheriges Spiel fortsetzen und mal die Grenzen öffnen, dann wieder schließen, hebt Christine Schörkhuber hervor.

 

Selbst wenn sie es schaffen, nach Westen weiterzureisen, bleibt die Gefahr bestehen, wieder nach Ungarn zurückgeschoben zu werden. Immer wieder kam es in Röszke zu kleineren oder größeren Ausbruchsversuchen, die brutal von der ungarischen Polizei niedergeknüppelt wurden. In den um Röszke liegenden Feldern stehen die Flüchtlinge lange im Polizeikessel, während manche fliehen und sich zu Fuß auf den langen Weg zur österreichischen Grenze aufmachen. Doch nicht alle schaffen es, viele werden wieder nach einigen Kilometern von der ungarischen Polizei eingefangen. Immerhin schaffen es einzelne, mit Autos der Registrierung durch die ungarischen Behörden zu entgehen.

 

Um die Menschen auf der Flucht aus dieser katastrophalen Situation herauszuholen, sammeln sich in Österreich und Deutschland couragierte Menschen, die mit Autokonvois nach Ungarn fahren. Gleichzeitig versuchen Menschen, das Elend in Röszke zu lindern, indem behelfsmäßige Hilfsstrukturen aufgebaut werden, um die Flüchtlinge mit dem Allernötigsten wie Nahrungsmittel, Wasser, Medizin, warme Kleidung, Regenschutz und Zelten zu versorgen. Kurzfristig erhofft sich eine Mitarbeiterin von SOS Röszke, dass viele Menschen die benötigten Dinge nach Ungarn bringen und für ein paar Tage vor Ort bleiben.

 

Ali M. ist Mitte vergangener Woche mit anderen als freiwilliger Helfer nach Röszke gefahren, um eine Hilfslieferung zu überbringen und als Dolmetscher auszuhelfen. E schildert die schwierige Situation, als immer mehr Menschen bei Röszke ankamen. Halb ohnmächtige Kinder, Menschen mit Verletzungen, Kinder, die ihre Eltern verloren haben, schwangere Frauen, die nicht gleich medizinisch versorgt werden konnten, weil die wenigen Ärzt_innen überlastet waren. Obwohl die Situation Ali M. selbst bedrückt hat, musste er sich anstrengen, nicht in Tränen auszubrechen und versuchte, den erschöpften Menschen vor allem Mut zuzusprechen.

 

Zumindest bis Mitte vergangener Woche waren die Helfer_innen auf sich alleine gestellt. Eine Handvoll von Helfer_innen und eine kleine lokale NGO kümmerten sich bis dahin um ein winziges Versorgungszelt und ein medizinisches Zelt für Tausende von Flüchtlingen. Durch schnelle Koordination der Hilfsaktivitäten gelang es schließlich, für die Menschen in Röszke eine respektvolle Versorgung zu gewährleisten. Die lokale Hilfsorganisation MigSzol verfügte bald über ein relativ gut befülltes Spendenlager. So wird auch die gesamte Koordination erleichtert, wenn sich mit dem Auto nach Ungarn fahrende Helfer_innen direkt an MigSzol am Bahnhof von Szeged wenden, bevor sie sich dem Lager in Röszke nähern. Nach einer Aufforderung zur Hilfe nach außen engagierten sich auch kleine NGOs, die Suppenküchen einrichteten. Fahrzeugkonvois machen sich auf den Weg von Österreich und Deutschland nach Ungarn. Manche Hilfsleistungen wie die Essensverteilung und die medizinische Versorgung konnten schließlich nach ein paar Tagen an professionelle Organisationen wie Caritas und Ärzte ohne Grenzen übergeben werden. Es gibt auch Ansätze, sich vor Ort mit lokalen Behörden zu koordinieren.

 

Notwendiger Politikwechsel

 

Würden offizielle Stellen den Menschen mit dem gleichen Elan helfen, mit dem Ungarn, Österreich und Deutschland jetzt die Grenzüberwachung verschärfen, dann müsste kein Flüchtling mehr leiden. Die Helfer_innen unternehmen alles, was in ihrer Macht steht, um die Flüchtlinge zu versorgen und zu betreuen, und obwohl sie gar nicht so wenige sind, prägt Überforderung das Bild. „Wir können ein wenig helfen, weil wir uns entscheiden können, ob wir jetzt zu Hause sitzen und zuschauen, wie da unten Menschen sterben oder ob wir helfen.“ Nur alleine bewältigen können die Helfer_innen die Situation nicht.

 

Europäische Regierungen tragen die Verantwortung, den politischen Rahmen so zu gestalten, dass freie und sichere Fluchtwege geöffnet werden und eine Willkommenskultur für Flüchtlinge etabliert wird, wie sie von den Helfer_innen längst praktiziert wird. Eine dafür notwendige Maßnahme muss nicht einmal auf EU-Ebene abgestimmt werden, denn Österreich könnte mit gutem Beispiel voran gehen und die Dublin-Verordnung fallen lassen. Anstatt patriotische Gefühle zu bedienen und sich selbst als „Nation der Helfer_innen“ abzufeiern, ist es überfällig, die überall an den Bahnhöfen, bei Konvois und anderen Hilfseinrichtungen blühende Willkommenskultur der Helfer_innen zu unterstützen und Schritte zu setzen, um Flüchtlingen endlich ein Leben in Frieden und mit Respekt zu ermöglichen.

 

Als eines der reichsten Länder der Welt kann es doch nicht so schwer sein, die dafür erforderliche Infrastruktur und Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Anstatt wie in Traiskirchen die Menschen auf der Flucht in unwürdigen und von Privatfirmen miserabel verwalteten Massenquartieren unterzubringen, ist es an der Zeit für Maßnahmen, die die Lage der Flüchtlinge erleichtern. So bietet es sich an, den großen Leerstand an Wohnungen und Räumen in Städten wie Wien für Flüchtlinge zu öffnen, eine Maßnahme, die auch das Zusammenleben stärkt. Wir haben es nicht mit Angst einflößenden, anonymen „Flüchtlingsströmen“ zu tun, sondern ganz einfach mit Menschen, die unter großem Stress stehen und Schlimmes erlebt haben. Sie haben Ruhe und Entspannung verdient. Es geht jetzt darum, gemeinsam das Zusammenleben zu gestalten und vor allem auch darum, wie sich ein Aktivist von Freedom not Frontex ausdrückt, durch die Abschaffung des Dublin-Abkommens „die Leute selbst entscheiden zu lassen, wo sie hinreisen und leben wollen“.

 

veröffentlicht am 14.09.2015 auf no-racism.net und am 18.09.2015 auf Der Freitag

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