Leo Gabriel im Gespräch über den Mai 1968 und seine Folgen von Paris bis Managua
Den Mai 1968 in Paris erleben viele Menschen – einer von ihnen ist Leo Gabriel – ein paar Augenblicke lang als einen Moment, in dem die Revolution zum Greifen nahe scheint. Die Jugend rebelliert in den Straßen von Paris. Die Gewerkschaften rufen den Generalstreik aus und Aktivist*innen liefern sich Straßenschlachten mit der französischen Polizei. Staatspräsident de Gaulle verschwindet vorübergehend von der Bildfläche. Manche sehen in den Ereignissen ein Wiederaufleben der Pariser Kommune von 1871, als die Bewohner*innen die Staatsmacht aus der Stadt vertrieben und soziale Maßnahmen für eine Verbesserung der Lebensbedingungen ergriffen hatten.
Leo Gabriel nennt diese Tage einen Aufstand der Subjektivität. Ein Aufbegehren gegen jede Form von Herrschaft – gegen Kapitalismus und Konsumgesellschaft ebenso wie gegen das autoritäre Gesellschaftsmodell in der Sowjetunion und gegen die hierarchischen Kirchen. Und auch auf persönlicher Ebene handelt es sich um eine Befreiung des Individuums, die für viele mit sexueller Freiheit einher geht. Besonders die Frauen*bewegung nimmt in dieser Zeit einen Aufschwung. Der Blick erweitert sich von Europa auf andere Regionen wie Afrika, wo antikoloniale Befreiungsbewegungen sich für die Unabhängigkeit von kolonialer Unterdrückung stark machen und Lateinamerika, wo revolutionäre Bewegungen seit der erfolgreichen Kubanischen Revolution für soziale Befreiung kämpfen. 1968 ereignet sich als ein globales Phänomen, das an vielen Orten zum Ausdruck kommt. In politischer Hinsicht dennoch eine Niederlage, so Leo Gabriel, denn die Macht können die Aktivist*innen der 68er nirgends übernehmen. Veränderungen zeigen sich vor allem auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene.
Für Leo Gabriel persönlich bedeuten die Ereignisse in Paris einen tiefen Einschnitt in sein Leben. Als Sohn eines Universitätsprofessors für Philosophie und Chefideologen der konservativen ÖVP führt Leo Gabriels Weg nach Paris, mit dem Plan, eine diplomatische Laufbahn einzuschlagen. Zudem absolviert er ein Studium der Sozialanthropologie, u.a. bei Claude Levy-Strauss. Einst als Mitglied des katholischen Cartellverbandes und jetzt Vertreter der Auslandsstudent*innen erlebt Leo Gabriel die Ereignisse 1968 hautnah mit. Er liest die Werke von Autor*innen wie Herbert Marcuse, die besondere theoretische Impulse für die 68er Bewegung geben. Dies alles wird schließlich sein eigenes Leben tiefgreifend verändern und seinem bisherigen Weg eine Wendung geben.
Leo Gabriel kommt mit den Befreiungsbewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika in Berührung, die für die Überwindung der kolonialen Strukturen kämpfen. Auf einer persönlichen Ebene verändert auch die sexuelle Befreiung sein Leben. Freie Liebe und Sozialismus sind prägend für ihn, der lange Zeit in Kommunen lebt. Den Umbruch im Lebensstil erlebt er nicht nur abstrakt, sondern im Alltag, etwa bei den regelmäßigen Sitzungen in den Kommunen, wo selbstkritisch im Kollektiv über die eigenen Fehler reflektiert wird.
Nach dem Abflauen der Proteste hat Leo Gabriel das Gefühl, dass er nach all dem nicht mehr einfach in das erzkonservative Österreich zurückkehren kann. Er verbringt eine Zeit lang in einem kleinen Fischerdorf in Südspanien. Dort reift sein Entschluss, nach Lateinamerika zu reisen. Inspiriert von Persönlichkeiten wie Che Guevara und den Aufständen der Arbeiter*innen und Student*innen in ganz Lateinamerika möchte Leo Gabriel dorthin, um die wirkliche Revolution zu suchen, wie er es nennt. In Mexiko, wo er sich zunächst länger aufhält, hat er sie nicht gefunden, dafür ein paar Jahre später in Nicaragua.
Leo Gabriel beschließt, sich vom gewohnten intellektuellen Umfeld abzukoppeln und liest für einige Zeit kein Buch mehr, weil er so leben möchte wie die Kleinbauern und -bäuerinnen. Zu Beginn der 1970er Jahre schließt er sich dann einer Straßentheatergruppe an und gründet später eine eigene Gruppe. Der Gedanke hinter dem Straßentheater ist die Ermutigung der Arbeiter*innen und Kleinbauern und -bäuerinnen, deren Selbstbewusstsein gestärkt werden soll. Dafür werden soziale Kämpfe der Arbeiter*innen und Bauern dokumentiert und dramaturgisch auf der Bühne dargestellt. Besonders an den Orten, wo gerade Streiks und soziale Konflikte stattfinden, soll den Aktivist*innen an der Basis bewusst gemacht werden, dass hartnäckiger Widerstand und solidarischer Zusammenhalt zum Erreichen der gemeinsamen Ziele führt. Auf den Spuren von Che Guevara, nur in umgekehrter Richtung, reist Leo Gabriel als Filmemacher zusammen mit Musiker*innen und Schauspieler*innen quer durch den Kontinent, von Mexiko bis nach Argentinien, bis die Gruppe Anfang 1976 wieder nach Mexiko zurückkehrt. Alles, was er gefühlsmäßig über Lateinamerika weiss, hat er sich in diesen fünf Jahren angeeignet, so Leo Gabriel. So lebt er mit den Kleinbauern und -bäuerinnen in Guatemala zusammen und lernt Aktivist*innen aus den sozialen Bewegungen kennen. Später lernt er auch Personen wie den Revolutionsführer und heutigen Präsidenten von Nicaragua Daniel Ortega kennen und andere, die bei den lateinamerikanischen Linksregierungen seit Beginn der Jahrtausendwende eine Rolle spielen wie z.B. Evo Morales, den ehemaligen Gewerkschaftsaktivisten der Kokabauern und heutigen Präsidenten von Bolivien.
Während andere Aktivist*innen von 1968 den langen Marsch durch die Institutionen antreten und sich manche mit den Verhältnissen arrangieren, bleibt Leo Gabriel bis heute ein 68er. Einen Grund dafür sieht er darin, dass er lange Jahre in Lateinamerika verbracht hat. Er ist nicht vor der Frage gestanden, innerhalb der staatlichen Institutionen für Veränderungen einzutreten, wofür sich viele 68er in Österreich besonders in den Kreisky-Jahren entschieden haben. Um 1978 herum wird Leo Gabriel als Journalist tätig. Die Mitarbeiter*innen der von ihm frisch gegründeten alternativen Presseagentur APIA (Agencia Periodistica de Información Alternativa) treten als Kollektiv auf und berichten aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Während die Ereignisse in Nicaragua zunächst kaum von den großen Medienunternehmen zur Kenntnis genommen werden, setzen später viele auf die Arbeit der kleinen APIA, die von Anfang an über den Umbruch in diesem zentralamerikanischen Land berichtet.
Die Regierungen reagieren an vielen Orten mit brutaler Gewalt und schlagen die Proteste 1968 nieder wie in Kalifornien, wo der Gouverneur und spätere US-Präsident Ronald Reagan die Nationalgarde auf Demonstrant*innen hetzt. In Mexiko werden während der Olympischen Spiele im Oktober 1968 von der Armee Tausende Menschen auf dem Platz der drei Kulturen massakriert. In vielen Ländern von Lateinamerika führt die harte Repression durch die Staatsmacht – nahezu überall sind Diktaturen an der Macht – zur Militarisierung der sozialen Konflikte nach 1968 und zur Bildung von Guerillabewegungen. In den meisten Ländern werden diese niedergeschlagen, nur in Guatemala und El Salvador können diese Bewegungen zeitweise größere Gebiete befreien und in Nicaragua gelingt 1979 der Sturz der Diktatur von Somoza durch eine bewaffnete Revolution. Die Saat dafür war 1968 gelegt worden, so Leo Gabriel, denn je nach politischer Ausgangslage führte sie in manchen Ländern zu einer zivilgesellschaftlichen und kulturellen Dynamik, in anderen Ländern zu revolutionären bewaffneten Bewegungen.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gilt es vorübergehend als unzeitgemäß, sich für soziale Veränderung und Gerechtigkeit einzusetzen. Doch inzwischen ist es wieder möglich, in der Gesellschaft fundamentale Kritik am Kapitalismus zu äußern und Fragen nach Alternativen aufzuwerfen, wie etwa im Rahmen des Weltsozialforums, dem Leo Gabriel als Mitglied des Internationalen Rates bis heute angehört. Vielfältige soziale Bewegungen treten, auch in Europa, wieder in Erscheinung, die für die Rechte der Arbeiter*innen und Subalternen kämpfen. Dies zeigt, dass das Bewusstsein und die Ideen von 1968 noch heute aktuell bleiben.
veröffentlicht am 26.04.2018 auf Unsere Zeitung
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